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Hybris in Politik und Fußball

Jens Thurau17. Oktober 2003

Der Kanzler verdrückte eine Träne beim Fußball-Film "Das Wunder von Bern". Damals ging es noch aufwärts – auf dem Spielfeld und in der Republik. Doch auch heute gibt es Grund zur Hoffnung, meint Jens Thurau.

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Zugegeben: Neu ist die Idee nicht. Zahlreiche Schriftsteller und Intellektuelle haben immer wieder fieberhaft nach Parallelen zwischen Fußball, Politik und Gesellschaft gesucht: 1954, im Wirtschaftwunder, geschah das Wunder von Bern. Deutschland wurde Weltmeister – wie wenig später auch im Export. 1972 wagte Willy Brandt mehr Demokratie. Und Günther Netzer durchschritt – im gemächlichen Tempo und mit wehender Mähne - das Mittelfeld und schlug Traumpässe in die Tiefe des Raumes. In Richtung Zukunft, Kreativität und Utopie.

Und 1990 – mitten im Einheitstaumel – wurde Deutschland wieder Weltmeister, und Teamchef Franz Beckenbauer mutmaßte, auf Jahre hinweg sei Schwarz–Rot–Gold nun unschlagbar. Schließlich kämen nun noch die DDR-Spieler hinzu. Helmut Kohl fand das auf politischer, gesellschaftlicher und einer Reihe anderer Ebenen auch.

Altes und neues Europa

Tja, Hybris eben. In der Politik wie im Spiel. Heute lahmt die Konjunktur, drücken die Schulden, platzen die Sozialsysteme, herrscht Depression. Und was passiert auf dem Feld? In der ersten Runde des Europapokals verliert Hertha BSC Berlin gegen – bitte mitschreiben: Grodzisk aus Polen. Einem Verein also aus dem neuen Europa. Der Hamburger SV leistet ebenfalls Aufbauhilfe im Osten und unterliegt - wieder mitschreiben: Dnjepr Dnjepropetrowsk aus der Ukraine. Und die Tschechen locken nicht nur Investoren mit Dumpinglöhnen in ihr Land, sie schicken auch – in Gestalt des FK Teplice - den 1. FC Kaiserslautern geschlagen nach Hause. Und das alles in der Woche, in der der Bundeskanzler entscheidende Abstimmungen im Parlament über seine Reformvorhaben meistern musste.

Kein Wunder, dass Gerhard Schröder eine Träne verdrückte, als er den neuen Spielfilm über das "Wunder von Bern" ansah. Das waren noch Zeiten! Heute will die Europäische Fußball-Union unser Team nicht einmal mehr als Favoriten für die nächste Europameisterschaft einstufen. Vor uns liegen, oh Gott: Frankreich, auch Dänemark, Tschechien sowieso, sogar England, Portugal und Spanien.

Frauen vor

Aber es besteht Hoffnung: Borussia Dortmund hat sich durchgesetzt, gegen Austria Wien. Und Schröder ist bekennender Borussia-Fan. Und noch ein Hoffnungsschimmer leuchtet am Horizont: Deutschlands Fußball–Frauen wurden gerade Weltmeisterinnen. Auch sie liefen mit wehenden Mähnen durchs Mittelfeld, aber mit höherem Tempo als seinerzeit Herr Netzer. Bereit zu Veränderungen, zu Flexibilität. Halten wir uns also an die Regel, dass jeder Spruch von Franz Beckenbauer – in sein Gegenteil gewendet - zehn Jahre später gilt. Diesmal sagte der Kaiser: "Von Frauen kann man viel lernen, aber nicht im Fußball." Es besteht also aller Anlass zur Hoffnung.