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Günter Grass im DW-Interview 1997

Erhard Kluge, phi15. April 2015

Immer wieder interviewte DW-Redakteur Erhard Kluge den Schriftsteller Günter Grass. Auch 1997 zum 70. Geburtstag des Noch-Nicht-Nobelpreisträgers. Seine erste Frage an Grass ist heute so aktuell wie damals.

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Günter Grass (Photo: Sven Hoppe/dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/Hoppe

DW: Herr Grass, es ist eine Zeit der ungeheuer beschleunigten und veränderten Lebensformen. Hätten Sie sich eine andere Zeit, einen anderen Zeitgeist, ein anderes Jahrhundert gar gewünscht und lieber gehabt?

Günter Grass: Ich bin eigentlich nicht dazu gekommen, mir solche Wünsche zu leisten, weil dieses Jahrhundert mich gefordert hat. Ich war bei Kriegsende 17 Jahre alt und da war, wie sich dann bald herausstellte, die Thematik, was das Schreiben anging, wie vorgegeben. Das ist anderen Autoren meiner Generation auch so ergangen. Und dann erlaubt natürlich die Literatur Ausflüge. Dass man sich über Fantasie und Vorstellungskraft und leidenschaftlichem Interesse zum Beispiel ins 17. Jahrhundert zurück begibt und "Das Treffen in Telgte" schreibt. Das ist unter anderem das Reizvolle am Schreiben, dass es diese Luft- und Zeitsprünge erlaubt.

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Sie haben 1945 ihre Heimat Danzig verloren, haben sich im Westen wieder neu orientieren müssen. Heute könnten Sie vermutlich wieder in Danzig wohnen. Das bringt mich auf die Frage nach Günter Grass und Heimat. Wo sind Sie eigentlich zu Hause?

Das juckt mich heute eigentlich nicht mehr so sehr. Das war nach dem Krieg schwierig zu begreifen, dass es weg ist, durch deutsche Schuld und Verantwortung verschleudert. Ich bin dann nach dem Krieg in Düsseldorf gewesen. Da hat es mich bei Ausbruch des Wirtschaftswunders nicht mehr gehalten, dann ging ich Anfang 1953 in das noch weitgehend kriegszerstörte Berlin, West-Berlin. Dort habe ich als Bildhauer weiter studiert. Danach war ich in Paris, dann wieder zurück in Berlin. Seit geraumer Zeit habe ich meinen Hauptwohnsitz in Schleswig-Holstein, erst an der Westküste, jetzt hier an der Grenze zu Mecklenburg. Ich bin an diesen Orten sehr gerne, inklusive zweier anderer Schreib- und Arbeitsorte, einer in Dänemark und einer in Portugal. Ich bin ein Nomade geworden und halte auch nicht viel vom Wurzelschlagen.

Zeichnung von Günter Grass zum Roman "Die Blechtrommel" (Photo: Stefan Puchner)
Erfolgreiches Erstlingswerk: Die BlechtrommelBild: picture-alliance/dpa/S. Puchner

Die Hauptfigur ihres Erstlingsromans "Die Blechtrommel" ist Oskar Matzerath. Hat er Sie in ihrem Leben verfolgt, geärgert, oder war er ein unproblematischer Lebensbegleiter?

Er war auch schon während des Schreibprozesses eine äußerst widerspenstige fiktive Figur. Und dann, viele Jahrzehnte später, als ich an der Stoffmasse der "Rättin" saß, war er auf einmal da, so wie es um die sogenannten "Neuen Medien" ging, die dort ja eine ziemliche Rolle spielen, in diesem Roman. Er sagte: da gehör ich dazu. Ich bin immer mit Medien befasst gewesen, von der Blechtrommel angefangen bis zu dem Rückwärtstrommeln in der Nachkriegszeit, als er sein Geld damit verdiente. Und in der Tat, als ich ihn dann auch nicht los wurde, da war er sehr anstellig in diesem Buch und ließ sich ganz zwanglos in das Romangeflecht einfügen.

Wenn man stolz auf etwas ist, erzählt man auch gern davon. Sind Sie stolz auf ihre kaschubisch-deutsch-multikulturelle Herkunft?

Ich kann Ihnen sagen, dass ich stolz bin, aber ich bin gewiss, dass mich diese doppelte Verwurzelung reich gemacht hat. Ich verfüge über mehrere Quellen. "Stolz", ich weiß nicht, vielleicht, dass es mir gelungen ist, wie übrigens ja anderen Schriftstellern auch, mit anderen Regionen oder anderen Gebieten, durch Politik und verbrecherische Politik Verspieltes soweit zurückzugewinnen, wie es überhaupt möglich war, mit literarischen Mitteln. Also eine durch den Krieg zerstörte Stadt und als Heimat für Hunderttausende Menschen verlorene Stadt wie Danzig und die Umgebung wieder zu beschwören, literarisch zu beschwören, und sie wieder entstehen zu lassen. Da empfinde ich doch einen gewissen Stolz, dass das gelungen zu sein scheint.

Viele jüngere Autoren wie John Irving oder Salman Rushdie beziehen sich auf Sie und haben von Ihnen gelernt. Stehen sie mit denen auch in Kontakt?

Ja. Mit Salman Rushdie ist es natürlich durch diesen Todesbann und das Todesurteil erschwert und nur unter bestimmten Bedingungen kann man sich nur alle paar Jahre mal irgendwo sehen. Mit Irving stehe ich im Briefwechsel, mit anderen Autoren auch. Mich amüsiert es eigentlich, dass meine Art zu schreiben und Stoffe anzugehen, im Ausland mehr Schule gemacht hat als in Deutschland. Und wenn man von Schülern spricht, sind es immerhin so begabte, begnadete Schüler, dass sie nie Gefahr gelaufen sind, zu Epigonen zu werden. Sie behandeln es mit einer gewissen Souveränität, wie ich es auch gewohnt bin. Für mich ist, ohne dass ich den Mann jemals habe kennenlernen dürfen, Alfred Döblin der große Lehrer gewesen. Er war so reich in seinen epischen Einfällen, in seinen neuen Möglichkeiten des Erzählens, dass er manches nur angerissen hat und daran konnte man anknüpfen und das konnte man weiterführen.

Der Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass ist am 13. April 2015 in Lübeck verstorben.