1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Im Zustand der Unmündigkeit

Heinrich Bergstresser6. September 2002

Rund 113 Millionen Kinder wachsen nach Schätzungen der UNESCO ohne Schulbildung auf. 877 Millionen erwachsene Analphabeten zeigen: das Recht auf Bildung ist nicht verwirklicht. Ein Kommentar von Heinrich Bergstresser.

https://p.dw.com/p/2cZZ

Das Wort Bildung scheint seit einiger Zeit wieder Konjunktur zu haben. Seminare über "Wege in die Wissensgesellschaft - Bildung als Standortfaktor", "Berufsbildung für eine globale Gesellschaft" sind zwei Beispiele für ein wachsendes Interesse an Bildung in Deutschland.

Auch Europa hat Bildungsprobleme

Das liegt sicherlich nicht am Weltbildungstag (8.9.2002), an den die UNESCO zum 32. Mal erinnert. Vielmehr setzt sich in den Industrieländern langsam die Erkenntnis durch, das auch sie zunehmend Bildungsprobleme haben und diese Probleme offensichtlich nicht auf die armen und unterentwickelten Regionen dieser Welt beschränkt sind. Die PISA-Studie und eine internationale Studie zur Lesekompetenz der Erwachsenen (IALS) sprechen eine deutliche Sprache.

Vergleiche sind nicht immer frei von Vorurteilen und Fragezeichen. Manch einer mag einwenden, dass ein Vergleich zwischen Deutschland und Europa mit seinen mehreren Millionen Analphabeten und Semi-Literaten und den Entwicklungsländern sogar hinkt, wo mehrere Hundert Millionen Menschen weder lesen noch schreiben können. Aber in beiden Fällen gibt es viele Gemeinsamkeiten. Denn die Betroffenen befinden sich in einem Zustand der Unmündigkeit - ohne Aussicht, aus diesem beklagenswerten Zustand herauszukommen. Diese Unmündigkeit hängt direkt zusammen mit Unwissen, Armut und ungebremsten Bevölkerungswachstum. Und das im sogenannten Informationszeitalter.

In Bildung investieren lohnt sich

Dabei gehört Bildung zu den elementaren Menschrechten, die Entwicklungshindernisse beseitigen kann. Denn Bildungsinvestitionen sind langfristig wirkende Investitionen in den Einzelnen wie in die Gesellschaft. Unterentwicklung und Entwicklungsprobleme sind nicht allein durch Geld aus der Welt zu schaffen, und Fortschritt und Modernisierung findet nicht in erster Linie über Kapital statt, sondern über den Kopf. Dort findet der Prozess statt, sich die Kulturtechnik Lesen und Schreiben anzueignen. Dies sind Grundvoraussetzungen, sich in einer rasant verändernden Welt zu behaupten und billigen Versprechen, Magie und Aberglauben zu entfliehen, die von der Nichtbildung der Menschen leben. Und das nicht einmal schlecht.

Bildung als Ware?

Aber Bildung darf auch nicht zu einer beliebigen Ware verkommen, die auf den Märkten meistbietend angeboten wird. Diesem Privatisierungsversuch, der in Ansätzen bereits im GATS-Abkommen (General Agreement on Trade Services) enthalten ist, muss mit allen politischen und rechtlichen Möglichkeiten Einhalt geboten werden. Denn Bildung ist und bleibt eine gesellschaftspolitische Aufgabe, ganz gleich, ob in einem Industrie- oder Entwicklungsland. Und es ist gut so, dass die UNESCO diesen Grundgedanken vertritt und vehement gegen alle Kritik verteidigt.

Den Bildungspolitikern dieser UN-Organisation dürften die Gefahren einer überwiegend oder ausschließlich privat organisierten Bildung ohne staatliche Kontrolle nicht entgangen sein. Auf der einen Seite vergrößert sie den Gegensatz von Arm und Reich, und auf der anderen Seite produziert sie oft Radikale und Fundamentalisten. Beides aber - Armut und Fundamentalismus - hat für das Zusammenleben der Menschen den gleichen Effekt: Unzufriedenheit, Hass und Konflikt. Das Ziel von Bildung muss jedoch sein, genau diese Fehlentwicklungen zu verhindern.