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Immer mehr EU-Gegner in Tschechien

11. Juni 2002

– Grund: Die "ziemlich sinnlose Hysterie" um die Benes-Dekrete - Nur 41 Prozent für EU-Beitritt

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Prag, 10.6.2002, RADIO PRAG, deutsch, Dagmar Keberlova

In der Tschechischen Republik, deren EU-Beitritt nahezu vor der Tür steht, ist in den letzten Monaten die Zahl der EU-Gegner angestiegen. Worauf ist dies zurückzuführen? Welche Ereignisse haben die gesunkene Unterstützung des EU-Beitritts seitens der tschechischen Bürger beeinflusst? Könnte dies bei einem Referendum eine ernsthafte Gefahr für den Beitritt sein? Damit beschäftigen wir uns jetzt in den folgenden Minuten.

Ende Mai wurden Ergebnisse einer Meinungsumfrage präsentiert, die in den letzten Monaten so mit zu den schlechtesten Nachrichten bezüglich des EU-Beitritts überhaupt gehörten. Die Zahl der EU-Gegner ist der Umfrage zufolge um ganze 16 Prozent angestiegen und den EU-Beitritt Tschechiens unterstützen somit nur 41 Prozent aller Tschechen. Die verschiedenen politischen Parteien sehen dafür unterschiedliche Ursachen.

Die Koalition und ihre Co-Chefin Hana Marvanova hat hierfür die folgende Begründung:

"In Anbetracht der Tatsache, dass der Anstieg der Gegner und die Senkung der Befürworter des EU-Beitritts Hand in Hand gehen - und es handelt sich um mehr als 10 Prozent - wird es kein statistischer Fehler sein. Die Agentur selbst, die die Meinungsumfrage durchgeführt hat, hat festgestellt, dass diese Entwicklung zwischen Januar und Mai erfolgte, als die kontroverse Diskussion um die Benes-Dekrete stattfand. In der Öffentlichkeit steigt die Besorgnis, dass die Dekrete nach dem EU-Beitritt aufgehoben und eigentumsrechtliche Fragen angezweifelt werden. Die Agentur hat meiner Meinung darin recht, dass dieses Ergebnis eine Folge der nationalistischen Kampagne ist, die gewisse Parteien führen."

Die Bürgerdemokraten ODS geben der EU selbst die schuld. Jaroslav Zverina, Vorsitzender des Ausschusses für europäische Integration im Abgeordnetenhaus:

"Ich glaube, dass es offensichtlich ist, dass in den letzten Monaten über unseren Beitritt viel konkreter gesprochen wird. Die Phase, wo wir die EU als ein Lazarett für alle unsere Krankheiten dargestellt haben, ist vorbei. Jetzt sprechen wir über den konkreten Beitritt und ich glaube, dass die Konkretisierung gewisser Themen eine Abneigung hervorruft. Dazu gehören die Einschränkung der Freizügigkeit der Personen oder andere Regelungen, wie letztens der Vorschlag der EU-Kommission über die Reduzierung der Zahlungen an die neuen Mitgliedsländer bis zum Jahre 2013 anfangs auf ganze 25 Prozent. Das nimmt die Öffentlichkeit wahr und reagiert darauf. Ich nehme an, sobald sich die Sachen klären werden, wird die Unterstützung wieder steigen. Ohne Einfluss bleiben nicht die bilateralen Probleme mit Österreich, vor allem wegen des Kernkraftwerks Temelin und mit Österreich, Deutschland und Ungarn über das Ende des Zweiten Weltkrieges. Das ans Licht bringen des alten Hasses trägt große Schuld daran."

Anzumerken wäre nur, dass die Freizügigkeit der Arbeitskräfte bereits letztes Jahr beschlossen wurde und sich dementsprechend eigentlich nicht ein Jahr später auf die Unterstützung negativ auswirken kann.

Und was meint dazu der unabhängige EU-Experte, Politologe Rudolf Kucera?

"Unlängst las ich in der Zeitung eine Aussage von Vizepremier Rychetsky, dass wenn die Tschechen den EU-Beitritt ablehnen würden, dies auf der Unwissenheit oder Dummheit dieses Volkes basieren würde. Ich denke genau das Gegenteil. Wenn so etwas passieren sollte, passiert es aufgrund der Unwissenheit und Dummheit unserer politischen Repräsentation. Ich glaube, dass die sinkende Befürwortung des EU-Beitritts mit der dummen Handlungsweise unserer Politiker zusammenhängt. Erstens können sie den Bürgern die tatsächlichen Vorteile des Beitritts nicht erklären - das was man wirklich konkret erwarten kann, was sie gewinnen werden. Damit meine ich rechtliche und soziale Sicherheit, mehrere Freiheiten und nicht zuletzt größere Menschenwürde, darüber spricht man fast nicht."

Auch Rudolf Kucera macht für die Situation die - seinen Worten nach - ziemlich sinnlose Hysterie um die Benes-Dekrete verantwortlich, die die Menschen verunsichert.

Könnte diese Situation den EU-Beitritt Tschechiens bei einem Referendum ernsthaft gefährden? Politologe Kucera hierzu weiter:

"Sicherlich ja, wenn dieser Trend fortgesetzt wird, dann glaube ich, dass dieses Referendum sehr knapp ausgehen könnte. Dann würde es sich nur um wenige Prozentteile der Stimmen handeln."

Die Co-Chefin der Koalition Hana Marvanova ist derselben Meinung. Ihre Partei bemühe sich darum, den Menschen zu erklären, dass sie den EU-Beitritt nicht nur nicht befürchten sollen, sondern dass er eine große Chance für die Tschechische Republik darstellt:

"Ich bin überzeugt, dass es möglich ist und deshalb glaube ich, dass so eine Kampagne unverantwortlich ist. Den Menschen Angst zu machen, dass nach dem EU-Beitritt eigentumsrechtliche Ansprüche angezweifelt werden und das Ende des Zweiten Weltkrieges revidiert wird, ist unnötig, denn das droht uns nach dem EU-Beitritt nicht. Die EU ist eine Staatengemeinschaft von Rechtsstaaten, in der es nicht möglich ist, nur so ohne Grund die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges zu revidieren. Leider gelingt es, im Angesicht dieser Kampagne, den EU-Befürwortern nicht, sich diesem ausreichend zu stellen."

Wo ist denn nun nach einem Ausweg zu suchen? Gibt es eine Chance, dass sich die Einstellung der Tschechen zum EU-Beitritt nach den Wahlen ändern wird?

Hana Marvanova, hierzu:

"Das wichtigste wäre, dass die demokratischen politischen Parteien keine nationalistische Kampagne führen, die den Menschen am meisten Angst gemacht hat. Meiner Meinung nach muss man darauf bestehen, dass diese Themen nur zum Repertoire von extremistischen Parteien gehören. Demokratische Parteien können den Menschen doch nicht mit der Öffnung der Grenzen Angst machen. Dies ist etwas, was wir uns nach der Samtenen Revolution gewünscht haben. Jetzt ist der Beitritt vor der Tür und es wäre ein großer Fehler, wenn dieses Ziel verpasst wird, nur deshalb, weil jemand die Benes-Dekrete ans Licht holt, ein Thema dass der Vergangenheit angehört und das mit dem EU-Beitritt nicht verbunden werden dürfte."

Der ODS- Abgeordnete Zverina glaubt, dass bis zum Referendum eine positivere Stimmung in der Gesellschaft herrschen wird:

"Wir gehen davon aus, dass die Bevölkerung aufgefordert wird, ihre Zustimmung zum EU-Beitritt in einem Referendum zu äußern, wenn die Beitrittsgespräche beendet werden. Ich hoffe, dass bis dahin alles positiver gesehen wird."

Der Politologe Kucera ist hingegen sehr skeptisch:

"Ich glaube, dass sich nicht allzu viel verbessern wird. Die Aussichten, dass die Wahlen so ausgehen, dass wir eine Mehrheitsregierung haben, die den EU-Beitritt energisch bis zum Ende bringen könnte, werden immer kleiner. Die Menschen haben (...) immer mehr Abneigung zu den großen Parlamentsparteien und ich höre, dass sie eher kleinere Parteien wählen werden. Die Folge dessen wird eine sehr schwierige Regierungsbildung sein. Ich gehe nicht davon aus, dass eine aktionsfähige Regierung gebildet wird, die die Schwierigkeiten mit dem Beitritt energisch beseitigen könnte und gleichzeitig auch die Bürger überzeugen, dass unser wichtigstes Anliegen der schnellstmögliche Beitritt in die EU ist." (ykk)