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Immer noch am Leben

16. Februar 2010

Ein Jahr nach dem Gaza-Krieg hat ein Dokumentarfilm Premiere, der einen neuen Blick auf den zerbombten Landstrich wagt. In "Aisheen - Immer noch am Leben" geht es nicht um die Zerstörung, sondern um das Leben, das kommt.

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Zwei Fischerjungen am Strand von Gaza (Foto: Claudia Tomassini)
Zwei Fischerjungen am Strand von GazaBild: Claudia Tomassini

Der fensterlose Kellerraum ist von Neonröhren hell erleuchtet, an den Wänden hängen bunte Kinderzeichnungen. Jungen und Mädchen sitzen eng aneinander gedrängt auf dem nackten Boden. Zwei Palästinenser in schrillen Kostümen, mit roten Nasen und rosa Perücken, machen Witze über den Krieg. "Warum werfen die Bomben auf uns?", fragt einer der beiden Clowns die Kinder. "Etwa weil sie nicht wollen, dass wir hier unseren Spaß haben? Wir kommen trotzdem – oder hat hier irgendjemand Angst?"

Als plötzlich ein lauter Knall ertönt, brechen die Kinder in Gelächter aus. Clown Nummer Zwei hat schnell einen Luftballon auf den Stuhl gelegt, als sein Kollege sich gerade setzen wollte. Erschreckt hat sich niemand. Dabei gehören Explosionen und der Lärm von Kampfjets noch immer zum Alltag im Gaza-Streifen – zwei Wochen nach dem Ende der israelischen Militäroffensive "Gegossenes Blei".

Bilder vom Leben

Zwei Kinder spielen in Gaza (Foto: Claudia Tomassini)
Leben nach dem Krieg: Szene aus "Aisheen"Bild: Claudia Tomassini

Im Januar 2009 reiste der Schweizer Regisseur Nicolas Wadimoff im Auftrag des Kinderkanals von Al-Jazeera nach Gaza, um das Leben nach dem Krieg zu dokumentieren. Der Filmemacher aus Genf sah sich mit Zerstörung und Grauen konfrontiert – Bilder, die er bereits aus dem Fernsehen und aus Zeitungen kannte. Doch auf den zweiten Blick entdeckte er mehr: "Unter den Trümmern, unter der Zerstörung waren Menschen", sagt Wadimoff. "Sie bewegten sich, als hätten sie einen Schlag auf den Kopf bekommen - wie benommen."

Das habe er eine Zeit lang beobachtet, sagt der Filmemacher, der bereits in zahlreichen Krisengebieten gefilmt hat. "Ich bekam den Eindruck, dass diese Menschen etwas machen. Sie irrten nicht nur umher. Sie gingen ihren Beschäftigungen nach, sie versuchten am Leben zu bleiben. Sie hatten sich entschieden, weiterzuleben. Also mussten sie Stück für Stück ihr zerstörtes Leben wieder aufbauen." So sei die Idee für diesen Film entstanden: "Sich auf die Seite des Lebens zu stellen, das kommt, und nicht auf die Seite des Todes."

Alltagsszenen aus einem zerbombten Landstrich

Eine Idee, die dem Film auch seinen Titel gibt: "Aisheen – Still alive in Gaza" - noch immer am Leben. Deshalb zeigt Wadimoff nicht nur das zerstörte Karussell auf dem Jahrmarkt, sondern auch den Betreiber, der es wieder zusammenbaut – und die Kinder, die am Ende tatsächlich wieder darauf fahren. Nicht nur die zerstörten Olivenbäume, sondern auch den Vater und seine Söhne, die das Brennholz einsammeln. Und die junge Frau, die über den Bombentod ihrer Mutter trauert – und für ihre Geschwister jetzt selbst Mutter sein muss. Alltagsszenen aus einem zerbombten Landstrich, die zeigen, dass das Leben nicht zu Ende ist.

"Ich will mir gar nicht anmaßen, zu sagen, dass es für die Menschen in Gaza eine glückliche Zukunft gibt", sagt Wadimoff. "Niemand weiß, wie es für sie weitergeht." Doch die Menschen, die in seinem Film auftauchten, gäben Anlass zur Hoffnung, sagt der 1964 geborene Regisseur. "Wenn es mir gelingt, das zu vermitteln, und wenn die Zuschauer sagen, das ist ja unglaublich, selbst nach diesem Inferno finden die Menschen dort noch die Kraft, aufrecht zu stehen, dann hat der Film funktioniert."

Mehr als nur ein Konflikt

Auf Kommentierung und Filmmusik verzichtet Wadimoff dabei völlig – nur die Rapper, die sich DARG-Team nennen, steuern ihren Sprechgesang bei. Sie trotzen den andauernden Stromausfällen, die sie am Proben hindern, und lassen sich auch nicht von den fehlenden Instrumenten entmutigen, die es wegen der anhaltenden israelischen Blockade nicht gibt. Mit Nachdruck rappen die jungen Männer gegen Krieg und Unterdrückung. Auch gegen Widerstand in der eigenen Gesellschaft, wo westlich geprägte Rhythmen nicht bei allen auf offene Ohren stoßen. Denn Gaza ist unter der Hamas konservativer, islamischer geworden, auch das verschweigt der Film nicht.

Auf der Berlinale, wo die Dokumentation im Rahmen des Internationalen Forums des Jungen Films gezeigt wird, hätten manche gern mehr über diesen zweiten Konflikt in Gaza erfahren. "Mich hätte mehr interessiert, wie diese jungen Rapper mit dem Druck leben, eingesperrt zu sein und gleichzeitig in der eigenen Gesellschaft auf Ablehnung zu stoßen, und wie sie das in ihrer Musik umsetzen", sagt eine Zuschauerin bei der Vorpremiere. "Aber es gibt genug Leute in Deutschland, denen die Situation in Gaza nicht vertraut ist, und da kann der Film bestimmt helfen, etwas Verständnis und Mitgefühl für die Menschen dort zu wecken."

Autor: Klaus Heymach
Redaktion: Anne Allmeling