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In 2010

18. Oktober 2010

Wie kommt das eigentlich? Manche Übernahmen aus anderen Sprachen finde ich, Pardon, okay. Also akzeptabel. Oder sogar gut. Andere aber finde ich furchtbar, um es nicht noch drastischer zu formulieren.

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Burkhard Spinnen (Foto: privat)
Burkhard SpinnenBild: privat

Und manchmal sind es sogar unscheinbare Wortkleinigkeiten, gewissermaßen wortzollfreie Mini-Importe, die mich auf die Palme bringen.

Mein Beispiel für heute könnte nicht kürzer sein. Es lautet: "in". Ich meine damit das "in" in "in 2010". Früher sagte man: in diesem Jahr; im nächsten Jahr, im Jahr 2012. Heute heißt es stattdessen: in 2010, in 2011, in 2012. Und so weiter.

Sprachökonomie?

Natürlich stammt das in-Sagen wie so viele Veränderungen unserer Alltagssprache aus dem Angelsächsischen. Dort ist es gebräuchlich und normal. Ich erinnere mich noch an meine leichte Verstörung, als ich im Englischunterricht der 7. Klasse lernte, man sage "in nineteenhundredandseventyone"; aber diese Verstörung war kurz darauf überwunden. Ganz im Gegensatz zu der Verstörung, die mich jetzt jedes Mal erfasst, wenn ich deutsche Sprecher "in 2010" etc. sagen höre.

Kugeln für die Ziehung der Lottozahlen (Foto: dpa)
In 1815?Bild: picture-alliance/ dpa

Aber warum ist das so? Warum kann ich das "in" im Deutschen so schlecht aushalten? Es ist doch ein durchaus sinnvoller sprachökonomischer Vorgang, das Wort "Jahr" wegzulassen, wenn jeder aus dem Kontext problemlos schließen kann, dass es sich hier um Jahreszahlen und nicht um Drehzahlen oder Lottozahlen handelt. Nein, statt mich leichten Herzens von der behäbigen und altertümlichen Verdopplung "im Jahr 2010" zu verabschieden, muss ich mich zwingen, Menschen, die "in 2010" sagen, nicht allein deswegen sofort für inkompetente Schwätzer zu halten und ihnen meine Aufmerksamkeit zu entziehen.

Was mir fehlt

Ich habe wirklich viel darüber nachgedacht. Was fehlt mir, wenn das "Jahr" fehlt? Vielleicht die Würde des Historischen? Das Gewichtige, das Gravitätische, das Bedeutsame. Wird vielleicht, wenn das Wort "Jahr" fehlt, aus dem Jahr eine Zahl, eine schiere Nummer? Eine Verwaltungseinheit, eine Netzadresse, ein Postfach. Fehlt dem Jahr, wenn ihm das Wort fehlt, am Ende vielleicht sogar die Zeit?

Sie sehen, ich habe nicht nur nachgedacht. Ich bin sogar ins Grübeln gekommen – aber leider nicht zu einem Ergebnis. Vielleicht ist das "in" ja bloß eine Frage des Geschmacks, über den man bekanntlich nicht streiten kann. Möglicherweise ist Millionen von Menschen der Wegfall von "Jahr" überhaupt nicht aufgefallen, während andere, wie ich, drauf und dran sind, Freundschaften zu kündigen, bloß weil einer nicht mehr "Jahr" sagt – oder gar die Menschheit in "Jahr"-Sager und "in"-Sager aufzuteilen.

Sie sehen, Sie sehen mich ratlos. Manchmal gerät die Sprachkritik zu einer Reise ins Innere des eigenen Gemüts. Und dort stößt man bekanntlich auf die größten Rätsel.


Autor: Burkhard Spinnen
Redaktion: Gabriela Schaaf


Burkhard Spinnen, geboren 1956, schreibt Romane, Kurzgeschichten, Glossen und Jugendbücher. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet. Spinnen ist Vorsitzender der Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises. Zuletzt ist sein Kinderbuch "Müller hoch Drei" erschienen (Schöffling).