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In die Seele geschossen

Bernd Gräßler26. April 2003

Vor einem Jahr erschütterte das Schulmassaker in Erfurt Deutschland und die Welt. Der Ruf nach Gesetzesänderungen wurde laut - und vor allem die Frage: Wie kann man eine solche Tragödie in Zukunft vermeiden?

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Warum? Eine schwer zu beantwortende Frage - auch nach einem JahrBild: AP

Das Massaker am Erfurter Gutenberg-Gymnasium vor einem Jahr hat 16 Tote gefordert. Doch auch die Überlebenden haben Wunden davongetragen, die nur langsam vernarben, vor allem in ihrer Psyche. Seit einem Jahr betreuen Psychologen die Schüler und Lehrer. 12 der 16 Toten waren Lehrer. Christoph Brinckmann, evangelischer Religionslehrer am Gutenberg-Gymnasium, sieht seinen Berufsstand in den Grundfesten erschüttert. "Robert Steinhäuser hat den Menschen in die Seele geschossen, auch den Lehrern, die von seinen Kugeln nicht getroffen worden sind. Er hat sie schwer verletzt, und das weit über die Grenzen der Schule oder von Erfurt hinaus."

Mehr Massaker als Amoklauf

Es war der 26. April, kurz vor elf Uhr, als im Gutenberg-Gymnasium die ersten Schüsse fielen. Binnen zehn Minuten ermordete der 19-jährige Robert Steinhäuser in seiner ehemaligen Schule zwölf Lehrer, zwei Schüler, die Schulsekretärin und einen Polizisten. Danach richtete sich der schwarz maskierte junge Mann mit einer Pistole selbst. Weniger ein Amoklauf, als ein kaltblütig vorbereitetes und ausgeführtes Massaker, das die deutsche Gesellschaft erschütterte.

Psychologen deuteten die Umstände der lange geplanten Tat als Folge einer schweren Selbstwertkrise, die nicht zuletzt durch schulisches Scheitern verursacht gewesen sei. Der 19-jährige Erfurter war wenige Monate vor der Abiturprüfung wegen gefälschter Krankschreibungen vom Gutenberg-Gymnasium verwiesen worden. Den angebotenen Wechsel an ein anderes Gymnasium hatte er abgelehnt, den Rauswurf seinen Eltern verschwiegen, ihnen vorgegaukelt, er bereite sich aufs Abitur vor. Im Zimmer des jungen Mannes, der als Einzelgänger galt, fand man Dutzende Gewalt-Videos. Als Mitglied eines Erfurter Schützenvereins mit dem schönen Namen "Domblick" durfte Steinhäuser legal eine Pumpgun und eine Pistole besitzen. Mit beiden Waffen richtete er die Lehrer hin, viele vor den Augen der Schüler.

"Keine Waffe in die Hand"

Für den damaligen Gutenberg-Abiturienten Pascal Maus war das schreckliche Geschehen Anlass, seinem Leben eine ganz andere Richtung zu geben: "Zunächst wollte ich Berufsoffizier werden, habe mich da bei der Bundeswehr beworben, wurde angenommen. Allerdings war für mich am 26. April sofort klar, daß ich in meinem Leben keine Waffe in die Hand nehmen werde." Er habe nun gesehen, welches Leid mit Waffen über Menschen gebracht werden könne.

Auch in der Gesellschaft saß der Schock tief und zeitigte Ergebnisse: Zuerst wurde das thüringische Schulgesetz geändert. Schüler wie Robert Steinhäuser, die das Abitur nicht schaffen, erhalten auch in Thüringen künftig einen Abschluss der 10. Klasse. Das ist eine im übrigen Deutschland längst übliche Regelung, die einigen Druck von den Abiturienten nimmt. Die Tatsache, dass der erst 19-Jährige als Mitglied des Erfurter Schützenvereins "Domblick" legal eine großkalibrige Waffe, eine sogenannte Pumpgun und eine Pistole besaß, führte zu Änderungen im deutschen Waffenrecht. Heraufsetzen der Altersgrenze , strengere Kontrolle der Ausgabe von Waffenscheinen wurden gegen die Lobby der Schützenvereine und Jäger durchgesetzt. Künftig soll der Schießsport nicht mehr Vorwand für das Beschaffen von Waffen sein.

Novelliertes Jugendschutzgesetz

Diskutiert wird darüber hinaus in Thüringen ein Mitspracherecht von Schulen bei der Erteilung des Waffenscheins für Schüler. Dabei geben Kritiker zu bedenken, dass sich Straftäter meist illegal erworbener Waffen bedienen. Eine dritte Konsequenz betrifft den besseren Schutz der Jugendlichen vor medialer Gewaltdarstellung durch ein novelliertes Jugendschutzgesetz. Fraglich ist jedoch, inwieweit tatsächlich Wirkung erzielt wird, vor allem mit Blick auf das Internet. Deutschland galt schon vorher als das Land mit den meisten Verordnungen in Sachen Jugendschutz.

Weiter in die Kritik geriet das - wegen schlechter Ergebnisse im internationalen Leistungsvergleich ohnehin diskutierte - deutsche Bildungswesen. Schulschließungen, Lehrermangel, zu große Klassenstärken, schienen plötzlich ein konkretes, schreckliches Gesicht angenommen zu haben, auch wenn das Erfurter Gutenberg-Gymnasium für diese Defizite kein besonders krasses Beispiel war. Eher konnte der Fall Robert Steinhäuser als Beleg dafür dienen, dass in der Dreiecksbeziehung zwischen Schülern, Lehrern und Eltern vieles nicht stimmt. Die Schule informierte die Eltern nicht über den Hinauswurf des Schülers , die Eltern bemerkten über Monate nicht, dass ihr Sohn nicht mehr zum Unterricht ging. Die Frage nach der Verantwortung der Eltern wurde aufgeworfen, auch nach ihrem Lehrerbild. Erfurts Oberbürgermeister Manfred Ruge fordert ein Umdenken über die Stellung der Lehrerschaft in der Gesellschaft – sie sei deutlich zu negativ.

"Soziales Frühwarnsystem"

Der Deutsche Lehrerverband schreibt in einem Memorandum zum Jahrestag des Erfurter Massakers, die Angst der Lehrer in den Schulen sei ein Jahr nach dem Massaker von Erfurt gestiegen. Absolute Sicherheit gegen solche Taten könne es nicht geben, die wirksamste Maßnahme gegen Gewalt sei eine "Kultur des Hinhörens" und ein "soziales Frühwarnsystem" in der Gesellschaft. Psychologen hatten nach der Tat erklärt, in der Persönlichkeit des Täters Robert Steinhäuser hätte sich eine hochexplosive Mischung von Risikofaktoren vereint. Niemand in seiner Umgebung hatte dies jedoch bemerkt oder ernst genommen.