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Teurer Impfstoff für die Freiheit

21. Oktober 2009

Entführungen gehören in Venezuela zum Alltag. Längst ist von einer Entführungsindustrie die Rede. Guerilla und Paramilitärs aus Kolumbien mischen kräftig mit. Doch für die Chavez-Regierung existiert das Problem nicht.

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(Foto: AP)
Wenn es um Entführungen geht, nicht immer so präsent: Polizei in CaracasBild: AP

Sonntagnachmittag in einer geschäftigen Einkaufsstraße im Zentrum der venezolanischen Hauptstadt Caracas. Der Restaurantbesitzer Pablo Cabrera wartet in seinem Auto auf seine Ehefrau, die im Kaufhaus gegenüber Besorgungen erledigt. Plötzlich nähern sich zwei Männer dem Wagen. Einer von beiden hält eine Pistole in der Hand. "Die beiden sagten mir, dass dies eine Entführung sei", erinnert sich Cabrera. "Sie drohten mir, sie würden mich auf der Stelle töten, wenn ich mich nicht nach hinten setze." In Todesangst befolgt er den Befehl.

(Foto DW/Thomas Wagner)
Mit dem Schrecken davon gekommen: Entführungsopfer Pablo CabreraBild: DW/Thomas Wagner

Als die beiden Entführer das Auto starten, nutzt der 49-Jährige einen Moment der Unachtsamkeit und öffnet die Autotür. "Einer der beiden Entführer bemerkt das allerdings und haut mir seine Pistole über den Kopf, ich stoße ihn zurück, und inmitten dieses Durcheinanders kann ich mich aus dem Auto werfen und davonrennen", erzählt Cabrera. Er hat Glück im Unglück und kommt mit dem Schrecken davon. Sonderlich überrascht hat ihn der Kidnappingversuch nicht. "Entführungen wie diese finden in Caracas täglich statt", sagt er.

Tag für Tag in Caracas

Der Chef der Nicht-Regierungsorganisation "Paz Activa", Luis Cedeno, kann diese Einschätzung anhand von Zahlen bestätigen. "Im Jahr 1998 wurden in ganz Venezuela 50 Entführungsfälle registriert. Zehn Jahre später waren es schon sieben Mal so viele: 385 Entführungen.“ Die Realität sieht sogar noch düsterer aus als diese Statistik. Denn die meisten Angehörigen schalten die Polizei nicht ein, aus Angst, die Kidnapper könnten kurzen Prozess machen mit den Opfern. Und auch die so genannten "Express-Entführungen" werden in keiner Statistik erfasst. Allein in Caracas sollen in diesem Jahr mehr als 350 Menschen für einige Stunden von der Straße verschleppt worden sein, um ihnen Geld und Wertsachen zu rauben.

Entführungen sind in Venezuela zu einem Alltagsphänomen geworden. Die Betroffenen kommen aus allen Schichten der Gesellschaft, sagt Cedeno. "Opfer sind nicht länger nur Landbesitzer und Geschäftsleute, sondern auch Hausfrauen und Studenten aus deren familiärem Umfeld."

Straflosigkeit bleibt Hauptproblem

Elisio Guzmán, Polizeichef des oppositionsregierten Bundesstaates Miranda, bekämpft seit Jahrzehnten Entführer. Er sieht Staat und Justiz in Venezuela an allen Fronten überfordert. “Unser Rechtssystem leidet daran, dass viele Kriminelle straffrei bleiben. Unsere Gerichte und Staatsanwälte sind vollkommen überfordert. Die Gefängnisse erfüllen ihre Aufgabe nicht." Und wenn Straftäter freikommen, seien sie gewalttätiger als je zuvor.

Die Regierung nehme die wachsende Entführungsindustrie nicht ernst genug, kritisiert der Ex-Chef der nationalen Kriminalpolizei. So zieht es der linkspopulistische Präsident Hugo Chávez vor, den US-Imperialismus zu geißeln, statt sich mit den drastisch steigenden Mord- und Entführungsraten im eigenen Land zu beschäftigen. "Aus Sicht der Regierung existiert dieses Problem der Entführungen nicht. Mit dieser Haltung kannst du ein Problem aber schlecht lösen", sagt Guzman.

Einkommensquelle für kolumbianische Milizen

Die Schere zwischen offizieller Linie und Realität wird noch deutlicher, wenn es um die zwielichtige Rolle der kolumbianischen Guerilla im Nachbarland Venezuela geht. "Die Regierung Chávez vertritt die Position, dass die kolumbianische Guerrilla in Venezuela nicht entführt", erklärt Cedeno. Für Opfer und Experten hingegen ist vollkommen unstrittig, dass sich die Rebellengruppen Farc und ELN ebenso wie rechtsgerichtete Paramilitärs aus Kolumbien auch mit Entführungen auf venezolanischem Boden finanzieren.

Der kolumbianische Präsident Álvaro Uribe hat die illegalen bewaffneten Gruppen in seinem Land militärisch zurückgedrängt. Viele von ihnen haben sich deswegen über die 2200 Kilometer lange, schwer zu kontrollierende Grenze nach Venezuela zurückgezogen. Cedeno: "Die Farc kontrollieren die südlichen Bundesstaaten Tachira und Barinas. Weiter im Norden, im Bundesstaat Zulia, haben sich Paramilitärs festgesetzt, die sich 'Aguilas Negras' ("Schwarzadler") nennen."

Teurer "Impfstoff" für die Freiheit

(Foto: DW/Thomas Wagner)
Aufklärung über Entführungsepidemie: der Soziologe Luis CedenoBild: DW/Thomas Wagner

Die bewaffneten Gruppen aus Kolumbien sind in der Grenzregion inzwischen so mächtig, dass viele wohlhabende Venezolaner ihnen lieber ein Schutzgeld, die so genannte 'vacuna' – wörtlich "Impfstoff" – zahlen. Die Opfer hätten keine Wahl, denn der Staat schützt sie nicht, sagt Cedeno. "Und der Rest ist eine Frage der Ökonomie: Entweder sie haben das Geld, um sich ein persönliches Heer an Leibwächtern zu halten, oder aber sie zahlen die 'vacuna', von dem sich ein anderes Heer ernährt, nämlich das der Guerrilla und der Paramilitärs".

Die Angst ist zum täglichen Begleiter auf Venezuelas Straßen geworden. Wie Pablo Cabreras fühlen sich immer mehr Einwohner des reichen Öllandes von ihrer Regierung allein gelassen. Normalerweise könne man die Sicherheitspolitik einer Regierung einstufen, sagt Cabrera. Als effizient zum Beispiel oder als gut. "Im Fall Venezuelas ist das schlichtweg unmöglich. Die Regierung verfolgt keine durchdachte Kriminalitätsbekämpfung, sie improvisiert ohne klare Ziele vor Augen".

Autor: Thomas Wagner

Redaktion: Sven Töniges (pi)