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Indiens Rentner immer mehr im Abseits

26. Mai 2010

In Indien leben immer mehr alte Menschen. Im Jahr 2050 wird laut UN ein Viertel der Bevölkerung über 60 sein. Traditionell werden Rentner in der Großfamilie versorgt. Wer alleinstehend ist, dem bleibt nur das Altenheim.

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Rentnerinnen an einem Tisch (Foto: Priya Palsule-Desai / DW)
In Zukunft werden immer mehr Rentner in Indien abseits der Großfamilie leben müssenBild: DW

Jammuna Deodhar sitzt auf ihrem Bett und rezitiert aus der Bhagwat Gita, einer der heiligen indischen Schriften. Die 84-jährige zierliche Frau sitzt kerzengerade im Schneidersitz und hat ihr dünnes graues Haar zu einem Knoten gebunden. Auf ihrer Stirn trägt sie einen roten Filzpunkt. Es ist das Erkennungszeichen einer Hindugläubigen.

Jammuna Deodhra beim Lesen (Foto: Priya Palsule-Desai / DW)
Jammuna Deodhra lebt seit 14 Jahren im AltenheimBild: DW

Jammuna Deodhar ist Rentnerin und lebt in einem Frauen-Altenheim in Pune. 50 Jahre hat sie als Krankenschwester in einem Krankenhaus gearbeitet. Geheiratet hat sie nie. "Ich wollte meinem Land als Krankenschwester dienen, deshalb habe ich nie geheiratet", so die resolute Frau. "Denn Schwiegereltern hätten mir das Arbeiten außer Haus verbieten können. Und ich hätte dann nur eines im Leben gehabt: Kinder, Kinder, Kinder. Und wer weiß überhaupt, ob ein Ehemann mich überlebt hätte?" ergänzt sie lachend.

Traditionelles Versorgungssystem zerfällt

In Indien gibt es nur wenige Frauen in Jammuna Deodhars Alter, die unverheiratet sind. Schließlich, so die vorherrschende Denkweise, sicherten Heirat und Familie auch den Lebensabend. Denn in Indien werden die Alten traditionell in der Großfamilie, der sogenannten "joint Indian family", von der jüngeren Generation versorgt. Die Eltern leben in der Regel bei der Familie des ältesten Sohnes, und die Pflege im Krankheitsfall obliegt dann der Schwiegertochter. Doch dieses über Jahrhunderte funktionierende Versorgungssystem zerfällt zunehmend, denn die junge Landbevölkerung zieht es wegen der Arbeit in die Großstädte. Aber auch in den städtischen Bildungsschichten hat sich die Haltung zur Familie verändert.

"Heute haben Familien in der Stadt nur einen Sohn oder eine Tochter. Diese können oder wollen sich häufig nicht mehr um ihre Eltern kümmern, weil sie viel arbeiten müssen", so der Leiter des Altenheims, Ravinder Despande. "Viele wollen auch getrennt von ihren Eltern leben. Das wird dafür sorgen, dass mehr Altenheime nachgefragt werden."

Totale einer alten Frau beim Lesen (Foto: Priya Palsule-Desai/DW)
Organisierte Freizeitangebote gibt es kaumBild: DW

Mehrheit der Inder hat keine Rente

Im Gegensatz zu westlichen Industrienationen, in denen es staatliche Rentensysteme gibt, ist Indien weit davon entfernt, ein Wohlfahrtsstaat zu sein. Nur gut zehn Prozent der Inder sind durch Staatspensionen oder Betriebsrenten abgesichert. Die Mehrheit der Bevölkerung hat keinen Anspruch auf eine Altersrente und ist damit auf die Versorgung durch die Familie angewiesen. Zwar bekräftigt die indische Regierung, für ein menschenwürdiges Leben ihrer Alten einzutreten - und hat sich auch gesetzlich dazu verpflichtet. Doch bislang verlässt sich die Politik auch weiterhin auf die traditionelle Großfamilie als beste Lösung für das Leben im Alter.

Niedriger Versorgungsstandard in Altenheimen

Es sind vor allem die mehr als 500 nichtstaatlichen Stellen, die sich in Indien um die Alten kümmern, die nicht bei ihrer Familie leben. Sie finanzieren Unterkünfte für die Betroffenen. Allerdings: Die Einrichtungen sind häufig nur Schlafstätten, das Pflegepersonal hat oft keine medizinische Ausbildung, und Freizeitangebote gibt es kaum. Vor allem für rüstige Altenheimbewohner wie Jammuna Deodhar bedeutet das, dass sie viel Zeit tot schlagen müssen. "Ich beschäftige mich hier selbst. Ich schreibe Briefe an die Enkel meiner Geschwister, und ich lese englische Zeitungen, damit mein Englisch nicht einrostet."

Ein altes Ehepaar in Bangalore (Foto: UNI)
Ein altes Ehepaar in BangaloreBild: UNI

Jammuna Deodhars Altenheim liegt auf einem Schul- und Universitätscampus für Mädchen mitten in einem Wohnviertel. Seit 14 Jahren lebt sie im Altenheim in Pune. Lange im Voraus hat sich die pensionierte Krankenschwester einen Platz auf der Warteliste reservieren lassen. Mit 70 gab sie ihre Stellung in einem Krankenhaus in Kalkutta auf und zog ein. Sie lebt zusammen mit 80 weiteren Frauen in der Einrichtung. Es ist ein reines Frauenheim, denn in Indien sind Altenheime traditionell nach Geschlechtern getrennt. Die rund 18 Quadratmeter großen Zimmer bieten Platz für eine kleine Küchenzeile, ein Bett und Sitzgelegenheiten. Bad und WC werden geteilt. Gemeinschaftsräume oder Speisesaal gibt es nicht.

Angst vor der eigenen Hilflosigkeit

Das Zimmer kostet einmalig 40.000 Rupien, rund 570 Euro, inklusive Verpflegung und Betreuung im Krankheitsfall. Monatlich fallen zudem Kosten von 300 Rupien an, das sind umgerechnet gut vier Euro. Auch wenn ihr Leben in einem indischen Altenheim ganz anders aussieht als in Deutschland, eines hat Jammuna Deodhar mit ihren Altersgenossinnen hierzulande sicher gemeinsam. "Meine größte Angst ist es, die Kontrolle zu verlieren und dem Personal nicht mehr sagen zu können, was ich will. Dann würden die Leute schlecht über mich reden: 'Schaut, da ist sie gebildet - und was hat es gebracht? Sie ist ein Pflegefall.' Das würde mich sehr verletzen."

Autorin: Priya Palsule-Desai
Redaktion: Esther Broders