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Ingrid Noll: Rabenbrüder

Udo Marquardt22. März 2006

Ingrid Noll ist in ihrem neuen Roman so einfühlsam, aber auch so unerbittlich wie nie zuvor. Vertrackte Frauen und morbide Männer: "Rabenbrüder" kommen aus einer Familie, in der jeder jedem zum Hindernis wird.

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Manchmal kann ich nachts nicht schlafen. Schuld ist Ingrid Noll. Dann hat sie wieder ein neues Buch geschrieben. Eigentlich will ich nur mal eben reinschnuppern. Aber nach ein paar Seiten hat die Noll mich am Wickel - und ich muss weiter lesen bis zur letzten Seite.

Buchcover: Noll - Rabenbrüder

So ist es mir auch mit "Rabenbrüder" gegangen, dem neuen Krimi von Ingrid Noll. Darin erzählt sie die Geschichte der ungleichen Brüder Achim und Paul. Paul ist ein langweiliger Jurist, der seine Frau eher aus Routine betrügt - und weil seine Geliebte besser kochen kann als seine ehrgeizige Gattin. Achim dagegen ist verspielt, wechselt die Jobs wie die Frauen. Als Pauls Frau Annette von der Affäre ihres Gatten erfährt, kommt die Geschichte so langsam ins Rollen. Ein paar Seiten lang sieht alles so aus, als würde Annette mindestens Gatten und Geliebte meucheln. Aber dann haben Paul und sie einen Unfall. Pauls Vater stirbt. Und plötzlich nimmt die Geschichte eine ganz andere Wendung. Denn zur Beerdigung versammelt sich die ganze Familie im Haus der Mutter Helen: Paul, Anette, Achim und eben Helen. Und so langsam wird klar, dass die nach außen so heile und normale Familie tiefe Brüche hat, die nur notdürftig überspielt werden.

Mit dem Erbe kommt die Erinnerung - und der Tod

Eigentlich steht jeder jedem nur im Weg. Und nun sind sie um den Sarg des Vaters versammelt wie bei einer Versuchsanordnung. Annette rächt sich an ihrem untreuen Paul, indem sie mit Achim ins Bett geht. Paul ist eifersüchtig auf Achim, weil er Achim für den Liebling der Mutter hält. Sie hat ihm nicht nur das Erbe schon ausgezahlt; angeblich ist sie auch mit ihrem Sohn ins Bett gegangen. Als würde das nicht genügen, hat scheinbar die immer noch schöne Mutter Helen eine Affäre während ihr Mann im Sterben liegt. Der Tod des Vaters bricht die vermeintlich heile Familie auf. Es kommt nicht nur das Erbe, es kommen auch die Erinnerungen. Am Ende sind vier Menschen tot. Und keiner ist eines natürlichen Todes gestorben.

Ingrid Noll
Ingrid Noll (Archivbild)Bild: dpa

Wie immer bei Ingrid Noll beginnt alles scheinbar harmlos. Ein bisschen Ehebruch hier, ein kleiner Streit da. Und so langsam enthüllt sie den Abgrund, der sich unter der Fassade der bürgerlichen Wohlanständigkeit gähnend auftut. Da sind Wünsche, die ein Leben lang unerfüllt geblieben sind. Das Boot bei Paul, ein Kind bei Annette, Achim will das große Geld. Und da ist ein dunkles Geheimnis irgendwo in der Vergangenheit. Bei Ingrid Noll hat wirklich jeder eine Leiche im Keller. Und zwar wortwörtlich. Mal eingemauert, mal verbuddelt in der Toskana. Bei den Rabenbrüdern liegt sie im Sandkasten.

Teuflische Lektüre

Lachen kann man darüber, weil die Noll mit einem rabenschwarzen Humor und einer herrlichen Ironie erzählt. Aber bei dem Lachen ist einem nie ganz wohl. Denn die Abgründe, die sie da auftut, sind so normal wie die Fassaden, hinter denen sie versteckt werden. Ingrid Noll braucht keine Psychopathen, die ihre Opfer grausam zurichten, um Spannung zu erzeugen. Sie kommt aus mit einem Elektroschocker und einer Badewanne. Was bei ihr Gänsehaut macht, ist die schlichte Einsicht, dass im Grunde jeder zum Monster werden kann. Sei es aus unerwiderter Liebe, sei es um des lieben Geldes willen, sei es aus Versehen. Wir gehen alle auf dünnem Eis - und können von Glück sagen, wenn wir nicht einbrechen. Ingrid Noll erzählt von Menschen, denen es passiert ist.

Ihnen dabei zuzusehen, bereitet einem ein teuflisches Vergnügen. Es ist die pure Schadenfreude, noch einmal davon gekommen zu sein. Und weil Schadenfreude angeblich die schönste Freude sein soll, bleibe ich gern nachts wach, wenn Ingrid Noll wieder ein neues Buch geschrieben hat.