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Zu Besuch bei einem Superhirn

Katharina Redanz29. April 2016

Rund zwei Prozent der deutschen Bevölkerung gelten als hochbegabt - und haben häufig mit Vorurteilen zu kämpfen. Ist eine hohe Intelligenz eher belastend als bereichernd? Wir haben ein Superhirn gefragt.

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IQ-Test Foto: Frank Rumpenhorst dpa/lhe
Über 130 im IQ-Test? Dann sind Sie hochbegabt!Bild: picture-alliance/dpa/F. Rumpenhorst

"In der Schule hatte ich wenige Freunde", erzählt Heinrich Siemens. Während er darüber nachdenkt, zieht er seine Stirn zieht in Falten. Mit einem Intelligenzquotient von über 140 gilt der 52-Jährige als hochbegabt - und erfüllt mit seinem vorübergehenden Einzelgängerdasein zumindest ein Klischee, mit dem besonders intelligente Menschen häufig zu kämpfen haben.

Siemens sitzt in seiner gemütlichen Wohnung in Bonn, umgeben von leeren Flaschen, Büchern und Papierstapeln. Ein bisschen chaotisch sei er tatsächlich, gibt er lachend zu - damit erfüllt er ein zweites Klischee. "Aber innerhalb des Chaos ist immer noch irgendeine Ordnung. Meistens gelingt es mir, alles, was ich suche, sehr schnell zu finden." Um nicht weiter über das Thema Ordnung reden zu müssen, nimmt er einen großen Schluck Tee aus seiner Tasse.

Dass er einen IQ von über 140 hat, weiß der großgewachsene Mann erst seit ein paar Jahren, als er einen Test des Hochbegabtenvereins Mensa ablegte. Jeder mit einem Wert ab 130 gilt in Deutschland als hochbegabt, denn der Quotient liegt dann höher als bei 98 Prozent der Bevölkerung. Richtig überrascht habe ihn das Ergebnis aber nicht, sagt Siemens: "Ich mache sehr gerne Denkspiele und Knobeleien. Ich hatte vorher schon gemerkt, dass ich dabei deutlich schneller bin als andere." Das sagt er ohne jegliche Arroganz, aber dennoch bestimmt. Siemens weiß, was er kann: dass er schlau ist.

Heinrich Siemens Foto: privat
Heinrich Siemens hat einen IQ von 140Bild: Heinrich Siemens

In der Schule unterfordert

Dass Siemens intelligenter ist als Gleichaltrige, wurde nicht sofort entdeckt. Anders als der Großteil der 13.000 Mensa-Mitglieder in Deutschland stammt er nicht aus einer Akademiker-Familie. Mit elf Jahren kam er mit seinen Eltern und vier Geschwistern als russlanddeutscher Spätaussiedler aus Lettland nach Deutschland. In Neuwied angekommen, wurde er zuerst auf eine Hauptschule geschickt - "wie das halt bei Migrantenkindern, die nach Deutschland kommen, so ist."

Seine Hauptschullehrer merkten allerdings schnell, dass er unterfordert war - "zum Glück", sagt Siemens und streicht sich dabei seine langen, grauen Haare aus dem Gesicht. Bis heute sei er seinen Lehrern dankbar: Schließlich sei es keine Seltenheit, dass hohe Intelligenz nicht erkannt werde. "Manche hochbegabte Schüler folgen dem Unterricht gar nicht. Manche von ihnen landen sogar auf Sonderschulen." Hochbegabte würden immer auffallen, ist sich Siemens sicher: entweder als unterfordert oder fälschlicherweise als überfordert. Er selbst wechselte nach zwei Jahren Hauptschule auf ein Gymnasium - dort gliederte er sich direkt ohne Probleme ein und bekam bis zum Abitur nur Bestnoten.

Schulunterricht Foto: Inga Kjer/dpa
Hochbegabte Schüler langweilen sich in der Schule oft und werden fälschlicherweise für überfordert gehaltenBild: picture-alliance/dpa/I. Kjer

Mathematik und Sprachen - ähnlicher als gedacht

Siemens studierte Mathematik und Philosophie und promovierte in Linguistik. "Diese Kombination hört sich sehr komisch an", sagt Siemens und lächelt dabei leicht, "aber die Fächer passen besser zusammen, als man denkt." Sowohl Sprachen als auch Mathematik liege eine grundlegende Struktur zugrunde, Zusammenhänge müssten verstanden werden. Genau da liege seine Stärke: "Ich sehe Zusammenhänge, die andere nicht sehen. Am Anfang habe ich mich immer gewundert, warum Sachen, die mir auffallen, nicht jedem auffallen. Offensichtlich ist das ein Zeichen meiner Hochbegabung."

Heute ist Siemens selbstständiger Verleger, sein Spezialgebiet ist Plautdietsch - eine Version der niederdeutschen Sprache, die sich im 16. und 17. Jahrhundert im Weichseldelta im heutigen Polen herausgebildet hat. Mit seinen Eltern redet Siemens nur Plautdietsch. Auch wenn er Hochdeutsch spricht, rollt er das "r" sehr hart.

Arrogant und 'schräg'

Im Alltag versteht er manches schneller als andere. "Mir wurde schon häufig Arroganz vorgeworfen", erzählt der Verleger, "aber damit kann ich leben. Ich weiß ja, dass ich eigentlich nicht arrogant bin." Er hoffe, dass seine Hochbegabung im Alltag nicht besonders auffalle, sagt er mit einem Augenzwinkern. Denn ein weiteres Klischee in Bezug auf Hochintelligente ist soziale Auffälligkeit. "Ich hoffe, dass ich dieses Klischee von Hochbegabten nicht auch erfülle", sagt er und lacht. Generell seien unter den Hochintelligenten viele "schräge Typen" dabei, so Siemens. Vielleicht auch deswegen bindet er seine Intelligenz nicht jedem auf die Nase. "Ich verschweige meine Hochbegabung nicht, aber ich schreibe sie auch nicht auf meine Visitenkarte."

Auch wenn er von Zeit zu Zeit mit Vorurteilen seiner Mitmenschen zu kämpfen hat - generell sei seine Hochbegabung für ihn eher eine Bereicherung als eine Belastung. "Seit ich gemerkt habe, dass ich hochbegabt bin, kann ich manche Dinge, die in meinem Leben passiert sind, leichter nachvollziehen", sagt Siemens.

Mensa Jahrestreffen 2016 Foto: DW/J. Ju
Die Mitglieder von Mensa, dem Verein für Hochbegabte, treffen sich regelmäßig, um sich auszutauschenBild: DW/J. Ju

Deswegen ermutigt er jeden, der ihm überdurchschnittlich intelligent vorkommt, einen IQ-Test zu machen: "Wenn man das Gefühl hat, man ist anders als die anderen - und die anderen Menschen vermitteln einem dieses Gefühl auch - ist es leichter damit umzugehen, wenn man eine Erklärung dafür hat."