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Internationale Pressestimmen der vergangenen Woche im Überblick

21. April 2002

Die späten Folgen von Srebrenica / Die späte Reise nach Marzabotto

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In der europäischen Tagespresse dieser Woche fanden nicht nur die erfolglosen Vermittlungsbemühungen von US-Außenminister Colin Powell im Nahen Osten ein großes Echo, sondern auch der Rücktritt der niederländischen Regierung. Das Kabinett von Ministerpräsident Wim Kok hatte am Dienstag die Konsequenzen aus einem Bericht gezogen, in dem das Verhalten der niederländischen Schutztruppe beim Massaker serbischer Truppen 1995 im bosnischen Srebrenica untersucht wurde.

Dazu war in der liberalen dänischen Tageszeitung POLITIKEN aus Kopenhagen zu lesen:

"Es geschieht nicht oft, dass Politiker durch Mut und aufrechtes Handeln beeindrucken. Umso positiver wirkt der Entschluss der niederländischen Regierung zum Rücktritt nach dem vernichtenden Untersuchungsbericht, in dem Politiker wie Militärs für die Entsendung leicht bewaffneter niederländischer Soldaten zum Schutz von Moslems in der bosnischen Stadt Srebrenica kritisiert wurden. Die Mission war von Beginn an aussichtslos. Die von den UN als sicher deklarierte Enklave wurde 1995 von serbischen Truppen überlaufen, die danach vor den Augen der niederländischen Soldaten 8000 Menschen umbrachten. (...) Srebrenica ist zum Symbol für das Versagen der Vereinten Nationen und der westlichen Welt im früheren Jugoslawien geworden und hat gezeigt, dass man Völkermord vor den Augen der Welt begehen kann. (...) Sicher stehen ohnehin am 15. Mai Wahlen an. Aber wenn man daran denkt, wie andere westliche Politiker an ihren Posten kleben, zeigt sich mit dem vorzeitigen Rücktritt in Schimpf und Schande eine selten gewordene Verantwortlichkeit."

Ähnlich beeindruckt zeigte sich der Kommentator der in London erscheinenden FINANCIAL TIMES:

"Die niederländische Regierung hat getan, wozu bisher keine westliche Regierung den Mut gehabt hat: Sie hat ihren Teil der Verantwortung für das Blutvergießen in den bosnischen Kriegen der 90er Jahre übernommen. Das schlimmste Massaker in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg ist ein blutiger Fleck im neuesten Kapitel der niederländischen Geschichte. Wim Kok nimmt nicht nur die Schuld der Niederländer auf sich, sondern vieler anderer Europäer, die durch die Tatenlosigkeit ihrer Regierungen beschämt werden. (...) Kok und seine Kabinettskollegen haben ihre Schuld akzeptiert. Es ist kaum vorstellbar, dass dies auch anderswo geschehen könnte."

Die linksliberale britische Zeitung THE INDEPENDENT meinte:

"Die wichtige symbolische Geste der niederländischen Regierung kann Gefühle des Versagens und der Schuld nicht aus der Welt schaffen, aber sie ist Ausdruck eines Schuldbewusstseins, ein Signal dafür, dass wenigstens einige westliche Politiker dazu fähig sind, sich beschämenden Fehlern der Vergangenheit zu stellen."

Die Brüsseler Tageszeitung HET LAATSTE NIEUWS merkte allerdings kritisch an:

"Regierungen sind nur zeitlich befristete Bündnisse von Politikern. Sie sind nicht wichtig - Menschen, die mit ihrem Kummer zurückbleiben, sind es schon. Wer verspricht, sich um Menschen zu kümmern, sie aber im Stich lässt, soll sich reumütig verbeugen und büßen. Die Niederlande haben das Gegenteil gemacht: Sie vertuschten und taten so, als ob niemand verantwortlich war. Koks Rücktritt wäre überzeugend gewesen, wenn er den Witwen und Waisen von Srebrenica ein 'Mea Culpa' gesagt hätte."

Die liberale österreichische Zeitung DER STANDARD sah in dem Rücktritt lediglich ein wahltaktisches Manöver:

"Bei grellem Licht betrachtet, sieht dieser Rücktritt doch etwas anders aus. (...) Nie ging es dabei um die niederländische Schuld den Tausenden Opfern von Srebrenica gegenüber, es ging stets um eine Art Frontbegradigung im Endspurt des Wahlkampfes: Schaut her, so moralisch und verantwortungsvoll handeln wir Politiker, uns kann keiner etwas vorwerfen; deshalb müsst ihr Bürger uns wieder wählen. Kok, ein bescheidener Mann aus bescheidenen Verhältnissen, ist nun gescheitert, und mit ihm scheiterte sowohl sein Modell der Konsensdemokratie als auch teilweise die viel zitierte Moral in der niederländischen Politik."

Die Schweizer NEUE ZÜRCHER ZEITUNG kommentierte:

"Es ist ein Abgang von weitgehend symbolischem Gehalt, mehr eine Geste der Anerkennung, dass auch die Politik damals versagt und den Militärs nicht jene Rahmenbedingungen geschaffen hatte, welche mehr Widerstand gegenüber den Mördern ermöglicht hätten. Die westlichen Regierungen hatten wohl einfach nicht glauben wollen, dass eine Tragödie wie jene von Srebrenica möglich war. Ein Risiko gehen Kok und seine Minister dabei nicht ein, denn sie werden vorläufig im Amt bleiben. Am 15. Mai finden ohnehin Wahlen statt, und dann werden die Karten auch ohne die Erkenntnisse zu Srebrenica neu gemischt."

Zum Schluss noch ein Zitat zum Besuch von Bundespräsident Johannes Rau im italienischen Bergdorf Marzabotto, wo die Nazis 1944 ein Massaker unter der Zivilbevölkerung angerichtet hatten. Dazu hieß es in der Mailänder Zeitung CORRIERE DELLA SERA:

"Endlich, nach 58 Jahren, ist ein Staatsoberhaupt aus Berlin gekommen, um mit einem öffentlichen Entschuldigungsakt das Kapitel der Nazi-Massaker in Italien zu schließen. Und er hat dies mit einer nicht rituellen Zeremonie in Marzabotto gemacht, wo die 'mörderische Ekstase' des SS-Sturmbannführers Walter Reder und seines Bataillons getobt hatte. (...) Es handelt sich um Wunden, die auf allen lasten. Auch auf einem Mann mit dem Profil wie Rau, der immer für die Idee der Versöhnung gearbeitet hat."