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Internationale Pressestimmen der vergangenen Woche im Überblick

zusammengestellt von Siegfried R. Scheithauer 5. Mai 2002

Amoklauf in Erfurt / Hausarrest Arafats beendet

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"Amoklauf", "Blutbad", "Schulmassaker" - die dramatischen Ereignisse in einem Erfurter Gymnasium waren auch international das deutsche Thema Nummer eins. Sofort nach Bekanntwerden berichteten die amerikanischen Medien in ungewöhnlicher Breite und Intensität über die Gräueltat.

Wie viele andere hob auch die WASHINGTON POST hervor, die Europäer seien jetzt gezwungen, - Zitat - "sich auf unangenehme Weise mit ihrer Gesellschaft auseinander zu setzen und zu dem Schluß zu kommen, dass leicht verfügbare Waffen und Massenschießereien nicht länger ausschließlich ein amerikanisches Phänomen" seien. Der Amoklauf habe "eine Stadt und eine Nation traumatisiert, wo persönliche Sicherheit als Teil der nationalen Identität angesehen wird".

"Es war eines der schlimmsten Schulgemetzel, die es je gab", hieß es in der NEW YORK TIMES, "eine Art von Gewalt, die Deutsche und überhaupt alle Europäer bisher als überwiegend amerikanisches Problem betrachten".

Dominierend ist auch im Ausland die Debatte um schärfere Waffengesetze. Der britische Zeitung DAILY TELEGRAPH kommentiert:

"Als Reaktion auf das Massaker von Erfurt war es vielleicht unvermeidlich, dass viele Deutsche nach einer Verschärfung der Waffengesetze rufen. Doch der Bundestag hat erst kürzlich eine striktere Waffengesetzgebung beschlossen. Der Amoklauf von Erfurt ist dadurch nicht verhindert worden. Immer, wenn sich solche Amokläufe in den USA ereignen, machen Kritiker Amerikas 'Vernarrtheit in Waffen' dafür verantwortlich. Was sagen sie nun, da etwas Ähnliches in einem Land ohne eine Nachkriegsgeschichte solcher Amokläufe geschehen ist?"

Die norwegische Tageszeitung AFTENPOSTEN meint:

"Zwei Schlussfolgerungen ergeben sich fast von selbst: Wie kann es für einen Jugendlichen nur so leicht sein, sich derartig große Mengen Waffen und Munition zu beschaffen, egal ob er nun in einem Schützenverein ist oder nicht? Hier müssen in einer Gesellschaft, in der das Tragen von Waffen nicht denselben Verfassungsschutz hat wie in den USA, strengere Regeln möglich sein. Zum anderen sollte es
möglich sein, die Ausbreitung von Gewaltvideos, Horrorfilmen und auf Gewalt fixierten Computerspielen zu begrenzen, wie man sie beim Mörder von Erfurt zu Hause fand. (...) Massenmorde dieser Art sind an Einzelpersonen geknüpft. Es wäre falsch, die Morde von Erfurt mit der Entwicklung in der früheren DDR in Verbindung zu bringen."

Auch das dänische Blatt POLITIKEN beleuchtet die Rolle von Computerspielen und Filmen:

"... Muss man nicht von einer durch die Medien inspirierten Modewelle sprechen? Kann man wirklich davon absehen, dass die massive Gewalt in TV, Film und Internet Wirkung zeigen? Kann man davon absehen, dass die enorme Aufmerksamkeit in unserer Gesellschaft für fiktive und tatsächliche verbrecherische Psychopaten Nachahmer erzeugt? (...) Dass mental schädliche, geistige Beschädigung der Umwelt aus diversen Gründen nicht verboten werden sollte, bedeutet ja nicht, dass man darüber nicht diskutieren kann. Und vielleicht auch einschränken."

Die Zeitung DER STANDARD aus Österreich rügt, Politiker im Nachbarland versuchten, die Tragödie für Wahlkampfzwecke zu missbrauchen.

"Edmund Stoiber hat mitgeteilt, (...) schon vor zehn Jahren habe er das Verbot Gewalt verherrlichender Videos und Computerspiele gefordert. Nur wegen falsch verstandener Liberalität sei sein Vorschlag nicht umgesetzt worden, so lautete die Botschaft des CSU-Politikers. Eine solche Tat derart politisch auszuschlachten, ist schier unfassbar. Da fehlt dem Kanzleranwärter mehr als politische Größe. Genauso müssen all jene Politiker als heuchlerisch bezeichnet werden, die sich wie Innenminister Otto Schily dafür loben, dass am Freitag, jenem Tag, an dem der Amokschütze um sich schoss, das Waffengesetz verschärft worden ist."

Die russische NESAWISSIMAJA GASETA fragt:

"Wie konnte das geschehen? Bei uns in Russland verlieren mitunter Soldaten die Nerven, aber nun Erfurt. (...) Die Welt wird im 21. Jahrhundert nicht nur durch Raketen und El Kaida bedroht. Es sind zu viele Waffen im Umlauf und in viel zu vielen Fernsehsendungen wird gezeigt, wie man sie benutzt. Aber es wird zu wenig Erziehungsarbeit geleistet, um allen zu sagen, dass das Leben eines anderen Menschen unantastbar ist."

Themenwechsel. Israel hob den wochenlangen Hausarrest gegen den Palästinenserpräsidenten Jasser Arafat auf. Korrespondenten berichteten von einem Triumphzug Arafats durch Ramallah. Die internationalen Kommentatoren bleiben skeptisch.

Die spanische Tageszeitung EL PAIS sieht es so:

"Arafats wiedererlangte, symbolische Freiheit nach einmonatiger Verbannung und Belagerung ist eine minimale Atempause in der Schwindel erregenden Situation in Nahost. Doch die Zuspitzung der Konfrontation zwischen Israel und den Palästinensern nach 19 Monaten Intifada macht die Wiederaufnahme des Dialogs zwischen den beiden
historischen Feinden ohne eine titanische Anstrengung und Hilfe von außen undenkbar. Die Hoffnung ist der Rache gewichen, und Arafat hat in Ramallah eine Welt in Ruinen vorgefunden, die das versinnbildlicht, was im gesamten Westjordanland während des langen Monats des israelischen 'Blitzkrieges' geschehen ist."

Auch das britische Wirtschaftsblatt FINANCIAL TIMES hält Eingriffe von außen für notwendig:

"Die USA müssen einen völligen israelischen Truppenabzug herbeiführen, einschließlich der regelmäßigen kurzen Vorstöße in Städte und Dörfer. Um der Palästinenserbehörde eine Chance zu geben, die Extremisten unter Kontrolle zu bringen, sollten die USA und Europa beim Wiederaufbau der Sicherheits-Infrastruktur der Behörde helfen. Die meisten Polizeiwachen und Gefängnisse sind von Israel zerstört worden und kaum noch benutzbar. Aber die wichtigste Aufgabe für die ausländischen Mächte besteht darin, eine realistische politische Lösung vorzuschlagen, die eine Hoffnung gibt und eine dauerhafte Alternative zur Gewalt darstellt."

Das französische Finanzmagazin LES ECHOS resümiert:

"US-Präsident Bush hat einen Erfolg verbucht, in dem er dem israelischen Ministerpräsidenten Scharon die Zustimmung abgerungen hat, die Belagerung Arafats in Ramallah zu beenden. Aber es bleibt dabei, dass die USA noch weit entfernt davon sind, die Situation zu lösen. Trotz ihrer wiederholten Appelle, sich aus dem Westjordanland zurückzuziehen, hat Israel nicht gezögert, in Hebron einzumarschieren".

Die Zeitung TELEGRAAF aus den Niederlanden sieht Arafat im Zwiespalt:

"PLO-Chef Arafat ist ein freier Mann, aber ob er damit viel
anfangen kann, muss sich noch zeigen. Wenn es jemals so etwas wie Frieden mit Israel geben sollte, muss er gegen die radikalen Palästinenser vorgehen. Aber sobald er das tut, hat er seine Popularität bei den Palästinensern verloren, die er gerade durch die Belagerung in Ramallah erworben hat. In diesem Sinn ist sein Erfolg über Scharon ein Pyrrhussieg."

Das dänische Blatt BERLINGSKE TIDENDE wirft ein Schlaglicht auf die Dschenin-Affäre und das Scheitern der UN-Untersuchungskommission:

"Dass die Ereignisse im Flüchtlingslager Dschenin nicht gründlich untersucht werden, ist eine Tragödie. Nicht zuletzt für Israel, denn das Vorgehen der Israelis ist schon jetzt Gegenstand einer umfassenden Mythenbildung in palästinensischen Kreisen. Der Mythos eines Massakers mit mehreren hundert unschuldig umgekommenen
Palästinensern. Die Tragödie und das diplomatische Eigentor wiegen doppelt schwer, weil nichts darauf hindeutet, dass die Mythenbildung auf Wahrheit basiert. (...) Wie die Dinge stehen, muss Israel mit der Anschuldigung leben, dass in Dschenin das Schlimmste geschehen ist."