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Internationale Pressestimmen der vergangenen Woche

Michael Wehling20. Dezember 2003

Verabschiedung der Reformgesetze in Deutschland / Lage der EU nach gescheitertem Gipfel

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Die Kommentare ausländischer Tageszeitungen zur deutschen Politik haben sich in dieser Woche vor allem mit den nach zähem Ringen beschlossenen Reformgesetzen befasst. Ein weiteres Thema war die Rolle Deutschlands in der EU nach dem gescheiterten Gipfel zur europäischen Verfassung.

Zunächst zu den am Freitag von Bundestag und Bundesrat verabschiedeten Reformgesetzen.

Die britische Zeitung FINANCIAL TIMES bemerkt:

'Die Gesetze ... bedeuten, dass Deutschland nach 20 Jahren des Redens über Veränderungen endlich seine Absicht zum Handeln unter Beweis stellt. Das ist von großer psychologischer Bedeutung, auch wenn das Paket selbst nur bescheiden ist. Diese Maßnahmen dürfen nur der Anfang sein. Sie werden nur etwas verändern, wenn die Nation akzeptiert, dass sie nun einen langen Prozess zur Modernisierung ihrer hoch besteuerten Wohlfahrtsgesellschaft eingeleitet hat.'

Das österreichische Blatt DER STANDARD aus Wien schreibt:

'Es ist vollbracht: Nach neun Monaten teils quälender Debatten
wurde in Deutschland ein umfassendes Reformpaket verabschiedet.
Regierung und Opposition haben sich zum notwendigen Kraftakt
durchgerungen, um gemeinsam die Strukturen auf dem Arbeitsmarkt und
bei den Sozialsystemen aufzubrechen. Es ist allenfalls ein
Schönheitsfehler, dass die rot-grüne Regierung bei einer der fünfzehn Abstimmungen im Bundestag keine eigene Mehrheit zustande gebracht hat... Wunder sind insbesondere auf dem Arbeitsmarkt nicht zu erwarten. Aber es wurde ein großer Schritt getan, dem in den nächsten Jahren weitere folgen müssen.'

Der CORRIERE DELLA SERA aus Mailand analysiert die Rolle von Bundeskanzler Schröder im Reformprozess:

'Er hat zwar ein paar sichtbare Beulen, aber im Grunde ist Gerhard
Schröder der Sieger, dieser sozialdemokratische Kanzler, dem die historische Aufgabe zukommt, den teuersten Sozialstaat der Welt
teilweise abzubauen, den der eiserne Kanzler Bismarck vor 130 Jahren aufzubauen begonnen hatte.'

Im TAGES-ANZEIGER aus der Schweiz überwiegen kritische Töne:

'Ein schmaler Steuerkompromiss ist noch lange keine Reform, und im vereinbarten Zuschnitt beweist er mehr den Reformbedarf im Lande als dessen Reformfähigkeit. Da werden nach altem Muster und politischer Opportunität Geldströme zwischen Bund, Ländern und Gemeinden verschoben, so genannte Privatisierungserlöse generieren künstlich neues Geld, und während der Subventionsabbau in aller Munde ist, wird die eigene Klientel umso ungenierter bedient. Und was den Einstieg in die drängenden Strukturreformen betrifft, stapeln sich auch nach dem 'Jahr der Reformen' die unerledigten Aufgaben. Daran ist gewiss nicht nur die Regierung schuld. Aber der Druck lastet weiterhin vor allem auf ihr. Derweil strotzt die Opposition vor Kraft.'

Die französische Regionalzeitung LA PRESSE DE LA MANCHE führt aus:

'Interessanterweise ist es in Deutschland die sozialdemokratische Regierung, die Steuersenkungen wollte, während die christdemokratische Opposition der CDU/CSU dagegen war und die Senkungen abgeschwächt hat. ... Die Gesetze von Bundeskanzler Gerhard Schröder sind einschneidend, und die geforderten Opfer bei den Renten und in anderen Bereichen sind hart. Aber insgesamt akzeptieren die Deutschen, was man von ihnen verlangt.'

Damit zum nächsten Thema, der Europapolitik:

Die in Madrid erscheinende spanische Zeitung 'ABC' kommentiert das das Scheitern des EU-Gipfels in Brüssel:


'Frankreichs Staatschef Jacques Chirac und der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder haben die EU in den Schlamassel
getrieben. Sie strebten die Führung in einem Europa an, das
eigentlich nicht mehr existiert. Sie führten ihre eigenen Länder in
den vergangenen drei Jahren in die Rezession, sie schürten den Streit
mit den USA und sie destabilisierten die EU. Dies zeigt sich am deutlichsten in dem EU-internen Riss während des Irak-Kriegs und in dem Schlag, den Paris und Berlin dem Stabilitätspakt versetzten.'

Die niederländische Zeitung DE VOLKSKRANT analysiert die Rolle Deutschlands in Europa:

'Deutschland hatte in Europa immer eine besondere Position. Das Land ist zu groß, als dass man es genau so behandeln könnte wie andere, aber es ist zu klein, als dass die anderen seine Hegemonie anerkennen würden. ... Berlin ist heute weniger bereit, seine nationalen Interessen dem Wunsch unterzuordnen, im europäischen Verband doch den lieben Frieden zu bewahren. ... Schröder will kein Gefangener der Vergangenheit sein. Aber er macht einen Fehler, wenn er Deutschland als ein ganz normales Land ansieht. Das ist es nicht. Ohne Geschichtsbewusstsein und ohne Gefühl für das rechte Maß kann das neue Selbstverständnis rasch entgleisen.'

Die österreichische Tageszeitung SALZBURGER NACHRICHTEN geht auf die Forderung der EU-Nettozahler - darunter Deutschland - ein, den Anstieg des Haushalts der Union nach der Erweiterung zu begrenzen.

'Rache ist süß, werden sich die sechs Regierungschefs gedacht haben, als sie ihren finanzpolitischen Drohbrief nach Brüssel schickten. Trotz bevorstehender Erweiterung und zusätzlicher Aufgaben wie gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik, Grenzsicherung, große
Verkehrsprojekte oder überregionale Forschungsvorhaben wollen sie in
Zukunft keinen Eurocent mehr ausgeben, als sie dies jetzt schon tun.
Das Motto der Strafaktion bleibt unausgesprochen, ist aber selbst
mit den dicksten Wollhandschuhen noch greifbar: Sollen die Starrköpfe aus Polen und Spanien doch sehen, wo sie bleiben ohne die großzügige Unterstützung aus den reichen EU-Ländern.'

Die Pariser Zeitung LE MONDE geht mit dem Brief der sechs kritisch ins Gericht:

'Zu diesem Schritt gibt es drei Dinge zu sagen. Erstens, dass die
Erweiterung, allen schönen Erklärungen zum Trotz und so gerechtfertigt sie auch aus politischer Sicht sein mag, Kosten
verursacht, die von den reichsten Europäern getragen werden müssen.
Zweitens, dass die Solidarität, die zu Beginn die Basis des
europäischen Aufbaus bildete, immer mehr schwindet, je größer die
EU wird. Das Europa der Krämerseelen gewinnt die Oberhand über den Gemeinschaftsgeist. (...) Die dritte Bemerkung schließlich betrifft die Ziele der EU und die Mittel, die die Regierungen bereit sind, ihr zur Verfügung zu stellen. (...) Gleichzeitig zu fordern, dass Europa auf gleichberechtigter Ebene mit den USA verhandelt und dann
wegen einiger Prozente eines ohnehin schon lächerlichen Haushalts zu feilschen - das sind zwei politische Ansätze, die sich
widersprechen.'

Abschließend ein Blick in die österreichische Zeitung DIE PRESSE. Das Blatt aus Wien schreibt zu den Überlegungen ein so genanntes Kerneuropa zu bilden:

'Die sechs Gründerstaaten Europas sprechen seit dem blamablen Scheitern der EU-Reform immer deutlicher von ihrer Absicht, Europa neu zu gründen. Ein kleiner, aber harter Kern soll zeigen, wie Europa wirklich ausschauen könnte. ... Eine Neugründung Europas wäre geradezu eine frohe Botschaft. Denn nach fast einem halben Jahrhundert EWG/EG/EU sind Konstruktionsmängel offenkundig geworden ...'