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Internationale Pressestimmen der vergangenen Woche

27. März 2004

EU-Anti-Terrorkampf / Rau beugt sich Terrordrohung / Schröders Gespräche in Polen / Müntefering neuer SPD-Chef

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Europa ist weiter im Terrorschock nach Madrid. Die EU-Länder denken über eine stärkere Zusammenarbeit im Anti-Terror-Kampf nach, Bundes- Präsident Johannes Rau sagt einen Besuch in Dschibuti nach Bekanntwerden von Attentatsplänen ab, und, nach Spanien, signalisiert auch Polen, bei der EU-Verfassung einem Kompromiss zustimmen zu wollen. Neben diesen Themen hat die ausländische Presse auch interessiert die Wahl von Franz Müntefering zum neuen SPD-Chef beobachtet und kommentiert.

Die österreichische Zeitung DIE PRESSE warnt vor Überreaktionen auf den Terroranschlag von Madrid:

"Sollten die Ereignisse von Madrid zur Methode erhoben und es möglich werden, Regierungen 'wegzubomben', gerät der 'Westen' in den Würgegriff von Terroristen. Europa hat zwei Möglichkeiten: Klein beigeben in der (irrigen) Hoffnung, vom Terror verschont zu bleiben, oder substanzielle Gegenmaßnahmen ergreifen. (..) Die Sicherheits- Politik der EU steht vor einer Nagelprobe, welche es erfordert, die neue Sicherheitsstrategie mit Leben und Substanz zu erfüllen. Es gilt, mit Bedacht und Entschiedenheit vorwärts zu gehen, denn 'zu Tode gefürchtet ist auch gestorben'."

Das LUXEMBURGER WORT bemängelt, dass "Konkurrenz- und Prestige- Denken, aber auch die Furcht vor Geheimnisverrat immer noch die Szene (in der EU) prägen." Auch würden "viele der für die Nachrichtendienste zuständigen Politiker in Europa noch in Schablonen des 19. Jahrhunderts denken." Allerdings sieht das Blatt auch positive Entwicklungen:

"Eine europäische Antwort auf den internationalen Terrorismus haben Luxemburg, Frankreich und Deutschland mit ihrem Sieben-Punkte- Entwurf vorgeschlagen. Dazu gehören gemeinsame Ermittlerteams, die Anwendung biometrischer Erkennungsmerkmale in Pässen bereits ab 2006 statt 2007, eine gemeinsame Datenbank für Straftaten u.a.m. Das ist alles nicht neu, bedarf vor dem Hintergrund der Ereignisse aber einer beschleunigten Einführung."

Die beschlossene Einsetzung eines bereits als 'Mr. Terror' bezeichneten EU-Koordinators im Anti-Terror-Kampf ist für den belgischen DE STANDAARD jedoch reine Makulatur:

"Die Einsetzung des Niederländers Gijs de Vries als EU-Koordinator für die Terrorismusbekämpfung ist eine symbolische Geste. Die wichtigsten EU-Mitgliedstaaten sind nicht bereit, sicherheits- relevante Informationen in einen europäischen Topf zu stopfen. (...) Auch Deutschland hat schon zu erkennen gegeben, das es seine Geheim- Dienste nicht zur Verfügung Europas stellen will."

Die DERNIÈRES NOUVELLES D'ALSACE aus Frankreich kritisieren ebenfalls die mangelnde Zusammenarbeit der EU-Länder: "Nach dem 11. September 2001 hat die Europäische Union viel versprochen. Eingerichtet wurden Organisationen wie Europol oder Eurojust, die hauptsächlich Informationen sammeln, ohne aktiv zu werden. Und die Staaten setzen nur zögerlich die EU-Gesetzgebung um. So haben beispielsweise bis heute nur zehn Länder den europäischen Haftbefehl akzeptiert. Vier Länder sind noch unentschieden und Italien will nichts davon wissen. Die nationalen Justizinstitutionen wachen eifersüchtig über ihre Unabhängigkeit."

Auch Bundespräsident Rau wurde von der weltweiten terroristischen Bedrohung eingeholt. Nach Warnungen vor einem geplanten Anschlag auf ihn sagte er einen Besuch im afrikanischen Dschibuti und bei dem dort stationierten Bundeswehr-Kontingent der internationalen Anti- Terror-Operation 'Enduring Freedom' ab.

Die SALZBURGER NACHRICHTEN meinen, damit habe Rau ein schlechtes Zeichen gesetzt:

"Einmal, weil er damit den deutschen Marinesoldaten signalisiert, die Sicherheit seiner Entourage sei wichtiger als jene der Soldaten, denn die müssen bleiben, wo es für den Präsidenten und sein Gefolge zu unsicher war. Zum anderen aber schickt das Zurückweichen schon vor einer bloßen Drohung das Signal aus: Seht her, wir fürchten uns. Dies gibt gefährlichen Terroristen und ebenso gefährlichen Wirrköpfen Auftrieb und Bestätigung. Es dokumentiert zunächst einmal, dass deutsche Politiker kneifen, sobald es brenzlig wird. Es gibt politischen Fanatikern Grund zu denken, dies sei womöglich nicht nur bei den deutschen Amts- und Würdenträgern so, sondern auch bei anderen."

Und die italienische LA REPUBBLICA meint, dass Deutschland sich nicht in Sicherheit wiegen kann:

"Angesichts der Tatsache, dass Deutschland zu den europäischen Anführern des Nein gegen den Irakkrieg gehörte, bietet das Komplott gegen Bundespräsident Rau eine dramatische Bestätigung, dass auch pazifistische Länder und Regierungen oder solche, die eine kritischen Haltung gegenüber den USA und Großbritannien vertreten, sich nicht sicher fühlen können: Im Gegenteil, sie befinden sich ebenfalls im Visier der Terroristen, nicht weniger als die Kriegsführenden in Bagdad."

Angesichts der Terrorbedrohung zeichnet sich auch bei dem langen Streitthema einer gemeinsamen EU-Verfassung ein Kompromiss ab. Nach Spanien signalisierte jetzt auch Polens noch bis Mai amtierender Regierungschef Leszek Miller seinem deutschen Amtskollegen Gerhard Schröder bei dessen Besuch, Polen wolle einlenken.

Der österreichische DER STANDARD meint dazu:

"Die fürchterlichen Ereignisse von Madrid ermöglichen es der Warschauer Regierung, ohne Gesichtsverlust aus der Ecke herauszukommen, in die sie sich selbst hineinmanövriert hat - stark innenpolitisch motiviert, aber auch mit durchaus nachvollziehbaren prinzipiellen Einwänden gegen eine Dominanz der Großen in der EU. (Aber) gegenüber der Bedrohung eines strategisch angelegten Terrorismus kann es ... kein 'opting out', kein Beiseitestehen geben."

Auch die polnische RZECZPOSPOLITA sieht einen guten Zeitpunkt für einen Kompromiss:

"Der Beitritt Polens zur Union hat unsere Gesellschaft 15 Jahre schwieriger Reformen gekostet. Jetzt ist die Zeit gekommen, die Chancen zu nutzen, die die Integration schafft. Das lässt sich nicht im offenen Streit mit Deutschland und Frankreich erreichen, den Gründern und wichtigsten Ländern der Gemeinschaft."

Die GAZETA WYBORCCZA meint:

"Schröder reicht dem polnischen Premier die helfende Hand.... Schröder tut dies nicht aus reiner Selbstlosigkeit - weiß er doch, dass es sich mit einem (innenpolitisch) geschwächten Premier leichter verhandeln lässt. Polen hätte mehr erreichen können, wenn es sich bereits auf dem Brüsseler Gipfel im Dezember auf einen Verfassunsgkompromiss geeinigt hätte."

Themenwechsel: Die Wahl von Franz Müntefering zum neuen SPD-Chef ist in der europäischen Presse mit Interesse beobachtet und kommentiert worden.

Die dänische Tageszeitung INFORMATION befürchtet, dass sich Kanzler Schröder eventuell einen Bärendienst erwiesen hat, denn:

"In den jetzt abgeschlossenen fünf Jahren als Vorsitzender hat Schröder ungewöhnlich große Probleme damit gehabt, Begeisterung beim Fußvolk der Partei zu wecken. Mit Müntefering wird das anders. Auch wenn ihm nur die Rolle als Mann zugedacht ist, der dem Kanzler den Rücken freihalten soll, beinhaltet der Parteivorsitz viel mehr. Der SPD-Vorsitzende ist Vorgesetzter des Kanzlers. Ohne die Partei ist Schröder nichts. (...) Denkbare Kronprinzen sind schon durchgefallen. Mit Müntefering hat Schröder (...) auch einen Konkurrenten direkt hinter sich bekommen."

Der italienische IL MESSAGERO greift in die Geschichts-Kiste und meint:

"Der Rücktritt Schröders lässt unausweichlich Erinnerungen an einen anderen sozialdemokratischen Kanzler aufkommen, der tragisch scheiterte. Helmut Schmidt war seinerzeit mit der Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen gezwungen, eine Politik zu verfolgen, die eigentlich eher einer konservativen Partei vorbehalten war. Auch Schmidt verzichtete damals auf das doppelte Amt des Kanzlers und Parteivorsitzenden (...) und verlor später das parlamentarische Vertrauen, was dann für 16 Jahre Helmut Kohl an die Macht brachte. Dass sich die Geschichte nicht wiederholt, ist die Aufgabe von Franz Müntefering."

Der österreichische DER STANDARD überlegt jedoch, ob der Personalwechsel in der SPD genügt, das Vertrauen der Partei und der Wähler zurückzugewinnen, denn:

"Dass mit Müntefering ein 64-Jähriger als Hoffnungsträger fungiert, offenbart die personellen Probleme der Partei, die keine fähigen Nachwuchspolitiker aufgebaut hat. Das ist mit ein Grund, warum sich Schröder bisher nicht zu einer Kabinettsumbildung durchringen konnte. Am Ende des Superwahljahres mit noch 13 Urnengängen wird sich auch zeigen, ob der Wechsel an der SPD-Spitze die Wähler zufrieden stellt oder ob nicht doch ein Politikwechsel notwendig gewesen wäre."

Zusammengestellt von Beatrice Hyder.