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Internationale Pressestimmen der vergangenen Woche

Siegfried Scheithauer19. Juni 2004

Der Bundeskanzler und Europa / US-Anhörung über 11. September / Yukos-Prozess in Moskau

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Die Kommentare und Analysen der ausländischen Tagespresse stehen weitgehend im Zeichen der Europa-Politik. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei auch der Rolle Deutschlands und dem Durchhaltevermögen von Bundeskanzler Gerhard Schröder.

Nach der Einigung über die künftige europäische Verfassung beim EU-Gipfel in Brüssel meinen zahlreiche Leitartikler, nicht Deutschland und Frankreich, sondern ausgerechnet die britischen Euro-Skeptiker hätten sich letztendlich durchgesetzt.

So schreibt der konservative Pariser FIGARO:

"Paris und Berlin wollten, dass die qualifizierte Mehrheit auf Abstimmungen über Steuern und soziale Sicherheit ausgeweitet wird. Tony Blair hat hartnäckig auf seinem Vetorecht bestanden und Nein gesagt. Er hat damit die Tür für jede Harmonisierung auf diesem Gebiet geschlossen. Blair spielt seine Karten gut aus. Seit er angekündigt hat, dass er die Verfassung einem Referendum unterwerfen wird, hat er einen guten Grund, um in Brüssel unnachgiebig zu sein. Das ist zweifellos ein großes Paradoxon der Union: Sein skeptischstes Mitglied bestimmt das Spiel."

Ähnlich sieht es der sozialdemokratisch orientierte VOLKSKRANT aus den Niederlanden:

"Jeder hat Zugeständnisse machen müssen, aber die Briten haben die wenigsten gemacht. Ein neuerliches Scheitern hätte der EU erheblichen Schaden zugefügt. (...) Als Resultat aller Sonderregelungen ist die Verfassung weniger einfach und übersichtlich geworden, als sich vor allem Frankreich und Deutschland gewünscht hätten. Präsident Jacques Chirac klagte schon vor der Schlussrunde, dass das Dokument zu stark verwässert würde. Aber schließlich kamen auch Berlin und Paris zur Erkenntnis, dass im Hinblick auf die wachsende Euroskepsis in den EU-Ländern mehr nicht möglich war."

Nur in der Londoner Presse wird die Rolle des eigenen Regierungschefs kritischer beurteilt. So merkt der DAILY TELEGRAPH an:

"Blair mag hoffen, dass er den Leuten weismachen kann, das wahre Thema sei: 'In der EU bleiben oder rausgehen?'. Aber die meisten Wähler sind nicht dumm und werden die Frage beantworten, die auf dem Abstimmungszettel steht: 'Sind Sie mit der europäischen Verfassung einverstanden -ja oder nein?' Deshalb natürlich auch der wenig überzeugende Kriegstanz mit Chirac und Schröder. Blair hat einen historischen Fehler gemacht."

Für Schröder und seine Regierung hatte die italienische Zeitung LA REPUBBLICA schon nach den Wahlen zum Europaparlament eine verheerende Bilanz gezogen:

"Eine Atmosphäre der Kanzlerdämmerung lastet auf Deutschland und seiner Stabilität sowie auf der politischen Stabilität Europas. Schröders berufsmäßiger Glaube an den 'dritten Weg' Deutschlands scheint weder die Partei noch die Wähler mehr zu überzeugen. Die Regierungspartei scheint zerrissen und von Panik ergriffen, die Opposition bringt bereits den Rücktritt des Regierungschefs ins Spiel. (...) Es hat bei den Wahlen ebenfalls nichts genutzt, auf den Pazifismus zu setzen, auf das Nein gegen den Irakkrieg. Auch die falschen Versprechungen über die positiven Auswirkungen der Reformen haben nichts genutzt."

Auch der KURIER aus Wien zeichnet ein Untergangsszenario:

"Der Kanzler und seine Partei haben selbst jene schwere Vertrauenskrise erzeugt. Wer zwei Mal lügt, dem glaubt man nicht, und besonders nicht jener Volkspartei, deren Mantra das Gummiwort von der 'sozialen Gerechtigkeit' ist. Können Kanzler Schröder und die SPD die auch von Vorgänger Kohl zu lange verschleppten und damit verschärften Strukturkrisen Deutschlands noch lösen? Kaum. Jedenfalls nicht mit mehr und neuerlicher Umverteilung. (...) Auch wenn sich Schröder nun zum Märtyrer der Reformen hochstilisiert: Mehr als ein dadurch eleganterer Abgang wäre ein Wunder."

Die NEW YORK TIMES beschäftigte sich mit dem geplanten Truppenabbau der USA in der Bundesrepublik und beklagte eindringlich:

"(...) Die vorgeschlagenen Einschnitte bei den US-Streitkräften in Deutschland, das für mehr als ein halbes Jahrhundert Amerikas größter militärischer Vorposten in Europa war, sind eine schlechte Idee, insbesondere zu einem Zeitpunkt, wo die Vereinigten Staaten darum ringen, ihre Beziehungen zu den NATO-Verbündeten wieder herzustellen. Viele Deutsche (...) werden diesen Rückzug und den damit verbundenen Verlust von Arbeitsplätzen als Vergeltung für den diplomatischen Widerstand Berlins gegen die Invasion im Irak sehen. Washington leugnet dies. Die aktuellen Pläne des Pentagon sind unangemessen drastisch, kommen zu einem unglücklichen Zeitpunkt und mit einer verdächtigen Begründung."


Ein breites Presseecho fanden die Anhörungen in Washington über die Terrorangriffe am 11. September 2001. Die FINANCIAL TIMES aus London fasst zusammen:

"Die Regierung von Präsident George W. Bush hat die amerikanische Öffentlichkeit in die Irre geführt. Sie hat die USA isoliert. Ihre Fehler im Irakkrieg haben dem Kult des Tötens um Osama bin Laden neue Nahrung gegeben. Die Beweise, die zu einer angeblichen Verbindung zwischen Saddam Hussein und Osama bin Laden vorgelegt wurden, waren dünn, wenn nicht sogar gänzlich erfunden. Das ist keine Kleinigkeit. Schon die erste Begründung für den Irakkrieg - die angebliche Existenz von Massenvernichtungswaffen - hatte sich nicht bestätigt. Die zweite Begründung, den Irak und den gesamten Nahen Osten von der Tyrannei zu befreien, kann nach den Anhörungen und nach den Folterskandalen kaum noch aufrechterhalten werden."

Die französische Tageszeitung LE MONDE urteilt nach dem Bericht der US-Untersuchungskommission:

"Das Ergebnis all der Lügen über den Irak ist ein unglaubwürdiges Amerika und eine beispiellose Welle des Hasses in der muslimischen Welt. Vor allem aber, und das ist noch viel weniger entschuldbar, hat der von den Fakten und der Legalität her nicht gerechtfertigte Krieg gegen den Irak die Welt von einer weitaus brennenderen Aufgabe abgehalten, nämlich von dem wirklichen Krieg gegen den Terrorismus. Osama bin Laden läuft immer noch frei herum. Und sein Netzwerk El Kaida breitet sich wie eine Metastase auf einem Planeten aus, der heute noch weniger sicher ist als er es in der Vergangenheit war."

Zitiert sei hier noch einmal die NEW YORK TIMES, die sich in den Streit zwischen US-Regierung und der Untersuchungskommission eingemischt hat:

"Als die Kommission (...) die Behauptungen der Bush-Regierung von einer Verbindung zwischen Saddam Hussein und Osama Bin Laden zurückwies, haben wir vorgeschlagen, Präsident Bush solle sich entschuldigen, dass er diese Behauptungen benutzt hat, um die Unterstützung der Amerikaner für die Invasion des Irak zu gewinnen. Wir haben nicht wirklich erwartet, dass das geschieht. Aber wir waren von Umfang und Schärfe der Fähigkeit der Regierung zum Dementi überrascht. Präsident Bush und Vizepräsident Dick Cheney haben nicht nur die Ergebnisse der Kommission beiseite gewischt und ihre Kompetenz bezweifelt. Sie versuchen auch, die Geschichte umzuschreiben (...) Was den Irak angeht, ist blindes Vertrauen in diese Regierung die falsche Strategie."


Zum Vorgehen des russischen Staates gegen den Ölkonzern Yukos und dessen früheren Vorstandsvorsitzenden, den Milliardär Michail Chodorkowski, abschließend die Kommentare zweier Moskauer Blätter:

Die Tageszeitung ISWESTIJA hat es so gesehen:

"Yukos weicht an allen Fronten zurück. Der Staat hat gezeigt, dass er jede, auch die reichste und stärkste Firma zerschlagen kann. Der unabhängige Konzern Yukos, dessen Führung die Prinzipien des freien Unternehmertums und der Demokratie predigte, ist bereit, sich an den Staat selbst oder an dem Staat genehme Investoren zu verkaufen. Die Manager und Eigner haben im Kampf mit dem Staat nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine moralische Niederlage erlitten. In Russland kann der Staat jeden zerstören - materiell wie moralisch."

Die Wirtschaftszeitung WEDEMOSTI fragt und hinterfragt:

"Will Präsident Wladimir Putin den historischen Weg Boris Jelzins gehen? Jelzin kam als 'Kämpfer gegen Privilegien' an die Macht und zog eine lange Kette an Korruptionsskandalen nach sich. Oligarchen, die 'Familie', Vergünstigungen gehören zur Epoche Jelzin. Wenn der Präsident jetzt den Konzern Yukos zerschlägt und an ihm nahe stehende Leute verteilt, zeigt er, dass er an Stelle der Oligarchen der Jelzin-Zeit nur seine eigenen schafft."

Das österreichische Blatt DIE PRESSE sieht sich an die "Schauprozesse der dunklen Sowjetzeiten" erinnert:

"Die Angeklagten in Käfigen, der Prozess des Jahres in einem kleinen Gerichtssaal, damit nur ein paar wenige das Geschehen verfolgen können. Ein öffentlicher Prozess? Die Machthaber und die Justiz, die der Kreml noch immer am Gängelband hat, haben sich mit diesem Prozess wieder einmal selbst disqualifiziert. Von Rechtsstaatlichkeit ist Putins Russland nach wie vor Lichtjahre entfernt."