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Internationale Pressestimmen der vergangenen Woche

Ulrike Quast17. Juli 2004

Affäre um Flüchtlingsschiff Cap Anamur / Untersuchungsbericht zum Irak-Krieg / Europäischer Gerichtshof zu Defizitverfahren

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Im Blickpunkt der ausländischen Presse standen in dieser Woche die Affäre um das deutsche Flüchtlingsschiff Cap Anamur, die britische Untersuchung der Geheimdienst-Arbeit vor dem Irak-Krieg und die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zur Aussetzung des Defizit-Verfahrens gegen Deutschland.

Zunächst zum Schicksal des deutschen Flüchtlingsschiffs Cap Anamur und den 37 afrikanischen Flüchtlingen. Die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG fragt:

"Internationales Recht - wofür? - Ein Schulbeispiel, wie internationales Recht Menschenleben nicht schützen kann, ist die unsägliche Odyssee der 'Cap Anamur'. Die italienische Regierung verweigerte wochenlang eine Landeerlaubnis mit der Begründung, man müsse einen gefährlichen Präzedenzfall im internationalen Recht verhindern. Das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge, Lob und Ehre sei ihm, brachte die Sachlage auf den Punkt: Man müsse doch die internationalen Bestimmungen provisorisch aufheben, damit die Bootsflüchtlinge wenigstens an Land gehen könnten. Wenn Paragraphen außer Kraft gesetzt werden müssen, um Menschen zu retten, so ist der Verdacht naheliegend, dass mit dem Regelwerk selbst oder mit seiner Anwendung etwas nicht stimmt."

Die schweizerische TAGES-ANZEIGER schreibt:

"Die Geschichte der Cap Anamur mutet wie ein Fanal für das neue Europa an. 22 Tage lang dümpelte der Frachter mit 37 Flüchtlingen aus Afrika im Mittelmeer - ohne Anlaufstelle. Italien verweigerte ihnen die Landung, weil Rom der Meinung war, Malta sei zuständig. Malta aber wollte auch nicht. Genauso wenig wie Deutschland, unter dessen Fahne das Schiff unterwegs war. Niemand fühlte sich verantwortlich. Schlimmer noch: Niemand erbarmte sich der Passagiere. (...) Stattdessen balgten sich die europäischen Bruderstaaten. Unter Verweis auf juristische und bürokratische Zwänge zogen sie die Odyssee der Verzweifelten in die Länge. Man schob sich das Dossier zu wie eine heiße Kartoffel. Es schien, als wollten sich alle als Meister der Gesetze hervortun, als Hardliner mit langem Atem. Gegeneinander - und gegen die Flüchtlinge."

Der britische Premierminister Tony Blair sieht sich durch den Untersuchungsbericht zur Geheimdienstarbeit vor dem Irak-Krieg entlastet. Blair räumte jedoch ein, die Lage vor dem Krieg möglicherweise nicht richtig eingeschätzt zu haben. Die in Kopenhagen erscheinende Zeitung POLITIKEN meint:

"Es ist eine sehr ernste Belastung für den britischen Premier- Minister Tony Blair, dass keine Massenvernichtungswaffen im Irak gefunden wurden und das Land deshalb kein akutes internationales Sicherheitsrisiko ausmachte. Der jetzt veröffentlichte Butler- Bericht fügt dieser Feststellung eine fast ebenso belastende hinzu. Der britische Geheimdienst glaubte, dass Saddam Hussein diese Waffen hatte. Dieser Glauben aber fußte auf einer ungeheuer dünnen Grundlage. Der Butler-Bericht spricht Blair und seine Regierung von dem Vorwurf bösen Willens und bewusster Manipulation frei. Darüber kann sich der ehrliche Blair freuen, auch wenn der Butler-Bericht ein bisschen sehr freundlich angesichts der Tatsache wirkt, dass die Regierung und Blair systematisch alle Bedenken der Geheimdienste selbst zur Seite schoben. Tony Blair steht zu seiner Entscheidung. Das ist ein ehrliches Verhalten, auch wenn dessen Grundlage jetzt erneut dünner geworden ist."

Der STANDARD aus Wien sieht durch den jüngsten Irak-Bericht in Großbritannien die Glaubwürdigkeit der Regierung in London dauerhaft beschädigt:

"So weit ist die politische Sklerose gediehen, dass am Ende, nach dem Sturz des Saddam-Regimes, noch als wahr geglaubt werden soll, was sich doch als falsch erwiesen hat: dass Bagdad Massenvernichtungswaffen besessen hat. Saddam Hussein 'hätte' sie einmal besitzen können, versicherten Bush wie Blair ungerührt diese Woche erneut, was so gut sein soll wie: Er hat sie besessen. Die Abschiebung der politischen Verantwortung auf eine technische Verantwortung der Geheimdienste in Großbritannien und den USA hat eine schwer wiegende Folge: Washington wie London schwächen ihre Möglichkeit, gegen tatsächliche oder werdende Atommächte wie Nordkorea oder den Iran vorzugehen. Auf welches Material gestützt wollen sie für Sanktionen werben, wenn ihre Agenten bereits im Irak so versagten?"

Nach Einschätzung der Londoner Zeitung THE GUARDIAN bleibt die Frage nach Blairs Glaubwürdigkeit:

"Obwohl der Ausschussvorsitzende Lord Butler keine Einzelpersonen für die Fehler bei der Einschätzung der Bedrohung durch den Irak verantwortlich gemacht hat, kommt Premierminister Tony Blair nicht ungeschoren weg. In dem Bericht wird bestätigt, dass Blair wie ein Präsident regiert. Er lässt seine Mission, oder gar seine Besessenheit, von niemandem in Frage stellen. Diese Art des Regierens ist unverantwortlich und gefährlich."

Der Pariser FIGARO merkt an:

"Unter welchen Umständen ist ein 'Präventionskrieg', wie der gegen Irak, berechtigt? Die Qualität der Geheimdienste ist ein wichtiges Element. (...) Doch da bleibt die politische Entscheidung, und dieser Verantwortung können sich weder Bush noch Blair entziehen. Beide haben sich auf falsche Informationen gestützt. Sie haben also nicht vorsätzlich gelogen. Ihre Integrität steht außer Zweifel. Aber das Urteil von Bush und Blair bleibt zweifelhaft. Reicht es, die Geheimdienste zu beschuldigen, um die Glaubwürdigkeit der Regierenden zu schützen?"

Themenwechsel. Über das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zum Stabilitäts- und Wachstumspakt meint die niederländische Zeitung DE VOLKSKRANT:

"Der Gerichtshof hat den Primat der Europäischen Kommission wieder hergestellt. Das ist ein Gewinn, sicher für die Niederlande. Eine starke Kommission liegt nämlich zweifellos im Interesse der kleinen EU-Länder. (...) Die große Frage, die offen bleibt, lautet: Wie soll es mit Frankreich und Deutschland weitergehen? Der Gerichtshof hätte Europa einen Dienst erwiesen, wenn er festgestellt hätte, dass Deutschland und Frankreich eine Buße erhalten müssen."

Die Zeitung NICE-MATIN aus Nizza konstatiert:

"Es bleibt die Frage, die weh tut: Was macht man, wenn ein Land die Regeln missachtet? Man kann natürlich zunächst den Rechnungsmodus ändern, um unter der Drei-Prozent-Grenze für das Defizit zu bleiben, aber wenn trotz alledem die Verpflichtungen nicht eingehalten werden - wie soll man dann ein Land verpflichten, sich zu beugen? Wenn die Geschichte der Abkommen - vom Westfälischen Frieden über Amsterdam (Stabilitätspakt) bis zu Maastricht (Zentralbank) - nur die Geschichte von Verstößen ist, dann ist die EU nichts weiter als die Fortsetzung einer jahrhundertealten Tradition."