1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Internationale Pressestimmen der vergangenen Woche

Frank Gerstenberg2. Oktober 2004

Kommunalwahlen in NRW / Wirtschaftliche Lage bei Karstadt-Quelle

https://p.dw.com/p/5e6U

Nach den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen befassen sich die ausländischen Tageszeitungen mit der politischen Stimmung in Deutschland. Der Tenor lautet: Ein Meinungsumschwung sei unübersehbar. Im Blickpunkt steht außerdem der Warenhauskonzern Karstadt-Quelle, bei dem mindestens 10.000 Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen.

Zunächst jedoch zur politischen Lage im Superwahljahr 2004. Die britische FINANCIAL TIMES aus London schreibt angesichts der Ergebnisse in Nordrhein-Westfalen:

"Die SPD von Bundeskanzler Gerhard Schröder scheint ihren
Niedergang aufgehalten zu haben. Wenn man die Ergebnisse in Nordrhein-Westfalen zusammen mit denen in den beiden ostdeutschen Ländern Sachsen und Brandenburg betrachtet, deuten sie darauf hin, dass die Popularität von Angela Merkels CDU ihren Höhepunkt überschritten hat. Die seit langem erwartete Trendwende - so sie es denn ist - könnte es Merkel erschweren, ihre Kanzlerkandidatur für 2006 sicherzustellen."

Zumal ihre Konkurrenten schon wieder mit den Hufen scharren, bemerkt die italienische Zeitung LA REPUBBLICA aus Rom:

"Gerhard Schröder, der Stratege, der in langen Zeiträumen
kalkuliert, setzt auf zwei Faktoren, um sich doch noch ein drittes Mandat zu erkämpfen. Erstens, auf einen wirtschaftlichen Aufschwung. Zweitens, auf die Krise an der Spitze der Christdemokraten. Angela Merkel ist nicht mehr die unangefochtene Führerin. Jetzt treten ihre Rivalen im Kampf um die Kanzlerkandidatur 2006 auf den Plan. Das sind aus Bayern Edmund Stoiber, aus Hessen Roland Koch und aus Niedersachsen Christian Wulff. Das Spiel ist offen in einem unstabil gewordenen Berlin."

Auch die in Kopenhagen erscheinende BERLINGSKE TIDENDE meint:

"Das Ergebnis untermauert die Tendenz, die sich auch bei den Wahlen in Brandenburg und Sachsen abzeichnete, wo die beiden großen Parteien ebenfalls Verluste zu verbuchen hatten. Das schlechte Abschneiden scheint eine Reaktion zu sein auf eine schwankende Führung und unklare Botschaften bezüglich der Arbeitsmarkt- und Gesundheitsreformen. Denn dass die kleineren Parteien wie die Grünen und die FDP in Nordrhein-Westfalen einen angenehmen Aufwind zu spüren bekamen, liegt vielleicht daran, dass sie den Wählern reinen Wein eingeschenkt haben. Keine der beiden Volksparteien hat Anlass zum Jubel, obwohl sie beide so taten, als hätten sie einen."

Schon gar nicht die SPD, meint die britische Zeitung THE GUARDIAN:

"Der sozialdemokratische deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder hat in der traditionellen Hochburg seiner Partei eine demütigende Wahlniederlage erlitten. Der einzige Lichtblick für Schröder ist, dass die Wahlsieger, die oppositionellen Christdemokraten, auch an Unterstützung verloren haben. Schröder leckt seine Wunden nach einer Serie von Niederlagen, die bisher die scheinbar sichere Prognose
begründete, dass er in zwei Jahren abgewählt werden wird", notiert der GUARDIAN aus London, ohne den allgemeinen Trend zu übersehen:

"Experten und Meinungsforscher sind gerade dabei, ihre
Analysen zu überdenken. Sie weisen darauf hin, dass Schröders Koalition den Abstand zu CDU und Liberalen zu verkleinern scheint. Der wesentliche Grund für ihre Unbeliebtheit waren bisher Schröders Einschnitte bei der Arbeitslosenunterstützung. Doch jetzt, da es den Wählern langsam zu dämmern beginnt, dass die konservative
Opposition noch härtere 'Reformen' - oder Einschnitte - vornehmen könnte, verschiebt sich die öffentliche Meinung langsam wieder zu Gunsten Schröders."

So weit der Kommentar der Zeitung THE GUARDIAN. Das belgische Blatt DE MORGEN sieht diese Verschiebung schon weiter fortgeschritten:

"Viel schwerer wiegen die Verluste der größten Oppositionspartei in Deutschland, der christdemokratischen CDU. Die CDU von Angela Merkel, die schon vorige Woche bei den Kommunalwahlen in Brandenburg und Sachsen schwere Verluste erlitt, bleibt mit 44,5 Prozent zwar die
stärkste Partei in Nordrhein-Westfalen, aber sie fällt von 50,3
Prozent zurück. Schröders Regierungspartner, die Grünen, gewinnen leicht: die Partei von Außenminister Joschka Fischer steigt von 7,3 Prozent im Jahr 1999 auf nunmehr 9 Prozent. Anders als im Osten Deutschlands gewannen die Rechtsextremen und die Linksextremen kaum
nennenswert Boden."

Auch die ebenfalls in Belgien erscheinende Zeitung LE SOIR sieht die Schröder-Partei im Aufwind:

"Das Wahlergebnis von Nordrhein-Westfalen bestätigt die Wende in der Wählergunst, die sich bei den regionalen Urnengängen in Ostdeutschland in der vergangenen Woche zeigte. Seit den Wahlen in Sachsen und Brandenburg halten sich die Sozialdemokraten für stark genug, um den Abhang wieder hinaufzuklettern und die Wahlen im Jahr 2006 gegen die Opposition zu gewinnen. Nach Ansicht von SPD-Chef Franz Müntefering beginnt die öffentliche Meinung zu begreifen, dass das Agenda-2010-Programm der Regierung unausweichlich ist. Außerdem geht der Protestbewegung im Osten Deutschlands der Atem aus."

Ungeachtet aller Trends gibt DER STANDARD aus Wien zu bedenken:

"Bundeskanzler Gerhard Schröder und seine Kabinettskollegen sowie SPD und Grüne werden sich aber daran messen lassen müssen, ob ihre Maßnahmen wirklich zu einer Reduktion der Arbeitslosigkeit in Deutschland führen. Das ist die Kardinalfrage bei der nächsten Wahl. Es reicht auch nicht mehr, nur alleine auf eine Erholung der
Konjunktur zu setzen. Die Zeiten sind vorbei, da mehr Wachstum automatisch mehr Arbeitsplätze bedeutet hat. Die Opposition muss erst unter Beweis stellen, dass sie bessere Konzepte hat. Nur darauf zu warten, dass Rot- Grün abgewählt wird, wie der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber meint, reicht nicht aus. Insgesamt geht Schröder mit einem Vorsprung in die zweite Halbzeit, CDU-Chefin Angela Merkel kann aber noch aufholen."

Die Zeitung GAZETA WYBORCZA aus Warschau folgert:

"Aus den Wahlergebnissen in Nordrhein-Westfalen lassen sich nur schwer eindeutige Schlüsse ziehen. Sie zeigen, dass die Wähler zu beiden großen Volksparteien mehr und mehr das Vertrauen verlieren. Gründe hierfür sind einerseits mit Sicherheit die kontroversen Sozialreformen, andererseits Korruption der Politiker auf Kommunalebene. In letzter Zeit hat es in dem einwohnerreichsten deutschen Bundesland viele lokale Korruptionsaffären gegeben, in die sowohl SPD- als auch CDU-Politiker verwickelt waren. In derartigen Situationen stimmt ein Teil der Wähler zum Zeichen des Protestes für kleine oder extreme Parteien, andere - diesmal fast die Hälfte der Wahlberechtigten - bleiben gleich zu Hause."

Das Fazit kommt von der INTERNATIONAL HERALD TRIBUNE:

"Die Frage für Deutschland ist nicht, ob Schröder oder Merkel oder irgendjemand sonst 2006 Kanzler wird. Sondern ob dieses Land, Europas größtes, sein Selbstvertrauen zurückgewinnen kann, das es in vier Jahren politisch-wirtschaftlicher Krise verloren hat. In dem die Bevölkerung mehr denn je Reformen will, sie aber gleichsam die Partei, die diese Reformen vorantreibt, in den Umfragen abstraft."


Nun zu einem anderen Thema: Der Warenhaus-Konzern Karstadt-Quelle, einst führend in Europa, ist wirtschaftlich in große Schwierigkeiten geraten. Zahlreiche Filialen in Deutschland sollen geschlossen, 10.000 Arbeitsplätze gestrichen werden.

Die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG hält die Lage für dramatisch:

"Die am Dienstag bekannt gegebenen Einzelheiten des seit Wochen in der Presse spekulativ diskutierten Sanierungsprogramms für den Einzelhandelskonzern KarstadtQuelle kommen selbst für deutsche Verhältnisse einem mittelgrossen Erdbeben in der Branche gleich. Die Opferung von Tausenden Arbeitsplätzen, von Hunderten Filialen und von Milliarden an Umsätzen im Zuge eines weitgehenden Umbaus in allen strategischen Bereichen des Konzerns macht deutlich, dass es sich nicht bloss um einen in der traditionsreichen Firmengeschichte beispiellosen Schnitt, sondern um eine Notoperation handelt, die schlicht dem Überleben dient. Das Geflecht der Ursachen für den desolaten Zustand von Europas grösstem Warenhaus- und Versandhandelskonzern besteht grob gesehen aus drei Komponenten, einer konjunkturellen, einer konzernstrukturellen und einer branchenspezifischen, die sich teilweise überlagern. Die Konsumflaute, die europaweit den Non-Food-Einzelhandel und zahlreiche Dienstleistungsbranchen noch deutlich stärker getroffen hat als den den Lebensmittelhandel, war zumal in Deutschland mit seiner hilflosen und erratischen Wirtschaftspolitik besonders ausgeprägt. Das traf Karstadt umso stärker, als der Konzern verhältnismäßig wenig international diversifiziert ist und damit übermäßig unter der heimischen Konsum-Tristesse leidet."

Die SALZBURGER NACHRICHTEN aus Österreich erinnern:

"Quelle - der Name war einst Synonym für den deutschen Wiederaufbau und den ersten bescheidenen Luxus zu Hause. Doch nun schlägt mit KarstadtQuelle eine weitere scheinbar unsinkbare Ikone der deutschen Wirtschaftsgeschichte leck - nach Grundig, Lufthansa, DaimlerChrysler oder Opel. So unterschiedlich die Gründe für Krisen bei all diesen Unternehmen waren und sind, ein Verhaltensmuster zieht sich wie ein roter Faden durch: Glaube an das unbegrenzte Wachstum und stete Expansion. Heute kann kaum jemand schlüssig erklären, warum sich KarstadtQuelle einen Touristikkonzern (Thomas Cook), eine Kaffeehauskette (Starbucks), einen Sport-TV-Sender (DSF) und 300 Fachgeschäfte aus den Bereichen Schuhhandel, Mode, Musik (WOM) oder Sporthandel (Golf House) einverleiben musste. Den Preis dafür zahlt jetzt jeder Dritte der rund 100.000 Beschäftigten. 10.000 droht die Kündigung, 20.000 zumindest ein Eingriff in ihre Verträge oder die Auslagerung. Auch hier sind die Strickmuster ähnlich: Tiefe Einschnitte oder völliges Ende - dieses Totschlag-Argument hörte man fast wortgleich bei Mercedes, als es um den Produktionsstandort der C-Klasse ging. Wer seinen Arbeitsplatz retten will, muss sich die neuen Bedingungen diktieren lassen. Diskutiert wird nicht mehr."


Soweit die SALZBURGER NACHRICHTEN, mit denen wir diese Presseschau beenden.