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Internationale Pressestimmen der vergangenen Woche

Siegfried Scheithauer9. Oktober 2004

Deutsche Reformen - Der Kanzler im Aufwind? / EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei / US-Report: Keine Massenvernichtungswaffen im Irak/ Präsidentenwahl in Afghanistan

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Insbesondere Kommentatoren und Analysten der europäischen Presse verfolgten auch diese Woche wieder aufmerksam die deutschen Debatten und Befindlichkeiten im Ringen um Reformen.

Die italienische Zeitung LA REPUBBLICA überdenkt Perspektiven des "Modells Deutschland" und des Kanzlers:

"Die Krise in der Sozialdemokratie, zunächst für unaufhaltbar gehalten und mit der Tendenz, den eigenen Kanzler zu stürzen, hat sich nun auch in die Oppositionspartei verlagert, und dies bis zu einem Grad, dass sie auch die CDU-Vorsitzende Angela Merkel bedroht. Der große Vorsprung der CDU in den Umfragen hat sich erheblich verringert. (...) Diese Wende könnte mit der Zeit eine entscheidende Bedeutung für den Rest Europas annehmen. Wenn die Zähigkeit von Kanzler Schröder belohnt würde, und das Modell Deutschland gestärkt aus den schwierigen Reformen hervorginge, dann wäre er der Kanzler, der ein saniertes Deutschland ins 21. Jahrhundert führt."

Das Blatt DE VOLKSKRANT aus den Niederlanden hat beobachtet:

"Die Veränderung kann man den Ermüdungserscheinungen in der Front der Reformgegner zuschreiben. (...) Es ist aber auch die Bereitschaft gewachsen, soziale Reformen zu akzeptieren. (...) Vielleicht spricht der Bundeskanzler, den man selten bei felsenfesten Prinzipien erwischen kann, diesmal mit der Kraft der Überzeugung. Wenn Schröder jetzt von der Möglichkeit einer dritten Amtszeit spricht, wird er wieder vollkommen ernst genommen."

Die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG aus der Schweiz bilanziert:

"Die offensive Strategie der EU, ihre geographischen Randzonen zu europäisieren, ist zwar gewagt, aber gegenüber der Alternative - Rückzug auf die Festung Europa - vorzuziehen. Lässt sich die Türkei europäisieren? Nun, Fortschritte, bemerkenswerte Fortschritte, die man bis vor kurzem nicht für möglich gehalten hätte, sind erzielt worden. (...) Die Aufnahme der Türkei und ihre Integration (...) dauern Generationen. Und es ist sicher kein Fehler, wenn die EU ab und zu auch in solchen Zeiträumen denkt und plant."

Einige Zeitungen wie die NEW YORK TIMES heben die Auseinandersetzung mit dem Islam hervor:

"Das allerwichtigste ist, die Türkei beweist, dass Islam und Demokratie vereinbar sind. Sein Beispiel - nun noch eindrucksvoller durch den noch engeren Anschluss an die Europäische Union - ist eine viel stärkere Herausforderung für die Autokraten im Nahen Osten als die aktuellen Fehlschläge der USA im Irak."

Auch LA STAMPA aus Italien setzt auf den gemäßigten Islam:

"Falls sich Europa den unverantwortlichen Luxus leisten sollte, die Quarantäne dieser unter den islamischen Staaten moderatesten Regionalmacht auf unbestimme Zeit fortzusetzen, dann könnte es am Ende gezwungen sein, genau den Schritt zu tun, den es nicht tun will: Dann muss es den ganzen Islam nehmen, ausschließlich Islam, und das mit all seinen Zweideutigkeiten."

Die LIBERATION aus Paris gibt zu Bedenken:

"Die Türkei bereitet nicht Probleme, weil sie ein moslemisches Land ist, sondern weil sie, trotz aller deutlichen Fortschritte, noch immer nicht völlig laizistisch und demokratisch ist. (...) Das heißt nicht, dass man ihr nicht eine Chance geben soll: Aber die geöffnete Tür bedeutet noch nicht den freien Eintritt".

Hier einmal ein Blick auf die geteilten Reaktionen auf die EU-Offerte in der Türkei selbst:

Jubel bei der Zeitung HÜRRIYET, wo es heißt:

"Gestern war ein Tag, an dem der große Atatürk unter uns hätte sein sollen. Er hätte miterleben müssen, wie der von ihm vor 80 Jahren eingeschlagene Weg das bis heute konkreteste Resultat gezeitigt hat. Dass dieses Ergebnis ausgerechnet Recep Tayyip Erdogan, ein Politiker mit ausgesprochen konservativen und sogar religiösen Zügen, herbeigeführt hat, hätte ihn vielleicht noch glücklicher gemacht."

Der Kommentator der CUMHURIYET fürchtet hingegen bereits das Ende des Nationalstaats:

"Der Türkei-Bericht der EU-Kommission verfolgt ganz offen den Zweck, die laizistische, demokratische Republik zu liquidieren. Darum geht es: Ökonomisch wird die Türkei der Kontrolle des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank unterstellt. Außen- und Innenpolitik werden von der EU überwacht. Die EU-Kommission wird die Reformen überprüfen und wenn sie etwas Negatives entdeckt, wird sie die Verhandlungen mit der Türkei ohne Vorwarnung auf Eis legen können."

Hohe Wellen schlug der Bericht des obersten amerikanischen Waffeninspekteurs, wonach das Regime von Saddam Hussein im Vorfeld des Irak-Krieges keine Massenvernichtungswaffen hatte:

Der britische GUARDIAN sieht die Kriegsgegner und Kritiker von US-Präsident Bush und Premier Blair bestätigt:

"Monatelang argumentierte Tony Blair, selbst wenn der Irak keine Vorräte an verbotenen Waffen besaß, habe es Programme gegeben, um sie zu entwickeln. Nun gibt es auch keine Programme. Die Hauptrechtfertigung für den Krieg, sowohl in Washington als auch in London, hat sich als unbegründet erwiesen".

Die Wiener Zeitung DER STANDARD hat entdeckt:

"Dass US-Präsident Bush nicht verhindert hat, dass der Bericht weniger als einen Monat vor den Präsidentschaftswahlen herauskommt, zeigt einmal mehr, welch geringen Legitimationsaufwand für den Irak-Krieg er für notwendig hielt und hält: Zuerst waren es Waffen, dann Programme und jetzt - im Bericht steht nicht weniger, als dass auch Forschung und Entwicklung von Waffen eingestellt wurden - eben die Intention. Im Zusammenhang mit dem Zauberwort 'Terrorismus' funktioniert das noch immer."

Widersprüchlich denn auch die Beurteilungen in den USA selbst. In der INTERNATIONAL HERALD TRIBUNE lesen wir:

"Es war beunruhigend zu verfolgen, wie Bush und Vizepräsident Dick Cheney weiterhin die Invasion zu rechtfertigen versuchten mit der Begründung, dass der Irak nach den Anschlägen vom 11. September der wahrscheinlichste Lieferant von verbotenen Waffen an Terroristen gewesen sei. Selbst wenn Saddam Hussein Gruppen hätte bewaffnen wollen, die er nicht kontrollieren konnte - eine ohnehin sehr zweifelhafte Vorstellung - er hatte nichts, was er ihnen hätte geben können. (..) Nichts in diesem umfangreichen Bericht bietet Bush die gewünschte Rechtfertigung für einen Präventivkrieg."

In der Online-Ausgabe der WASHINGTON POST erhält Bush hingegen Schützenhilfe, wenn es heißt:

"In Wirklichkeit konnte kein Präsident wissen, was wir heute wissen. Solange Saddam Hussein an der Macht war und sich weigerte, vollständig mit den Vereinten Nationen zu kooperieren, konnte es keine Gewissheit über seine Waffen geben. (...) Wir können nicht wissen, was passiert wäre, wenn Bush sich gegen den Einmarsch entschieden hätte."

Bei den Präsidentschaftswahlen in Afghanistan galt ein Sieg des prowestlichen Amtsinhabers Hamid Karsai als sicher.

Der CORRIERE DELLA SERA aus Mailand hat ungeachtet dessen folgende Einwände:

"Wenn man die Analysen der Experten kennt, erscheint die Wahrscheinlichkeit einer sich konsolidierenden Demokratie in Afghanistan doch ziemlich gefährdet. Die Talibanrebellen kontrollieren weite Teile des Landes. (...) Dann sind da die ethnischen Rivalitäten, die Last der Tradition, die es etwa vielen Frauen, obwohl sie das Wahlrecht haben, faktisch untersagt, an die Urnen zu gehen. (...) Und dennoch, es handelt sich um einen Beginn. Und man muss nun einmal einen Anfang machen."

Auch die SALZBURGER NACHRICHTEN zeichnen ein widersprüchliches Bild:

"Seit die radikal-islamistischen Taliban aus der Regierung des Landes verjagt wurden, hat Afghanistan einige Fortschritte gemacht, aber auch viele Chancen versäumt. Der Wiederaufbau kommt gleichsam wie auf Krücken nur langsam voran: Er hängt vom Geld aus dem Ausland ab und von der Hilfe ausländischer Teams. (...) Einen entscheidenden Fehler dürften die Befreier des Landes gemacht haben, als sie es zuließen, dass Afghanistan wieder zum größten Produzenten und Exporteur von Opium wurde."