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Internationale Pressestimmen der vergangenen Woche

Siegfried Scheithauer18. Dezember 2004

EU für Beitrittsverhandlungen mit der Türkei / Wahlsieg der Opposition in Rumänien / Scharon holt Arbeitspartei mit in die Regierung

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Die Europäische Union öffnet der Türkei die Tür zu einer Mitglied- schaft, baut zugleich aber Hindernisse auf: Die Beschlüsse des Brüsseler EU-Gipfels bestimmten die Kommentare der internationalen Presse in dieser Woche.

Das britische Wirtschaftsblatt FINANCIAL TIMES resümiert:

"Nach 41 Jahren im Wartezimmer hat die Türkei jetzt ein Datum für den Verhandlungsbeginn bekommen. Das ist in der Tat historisch. Eine Mitgliedschaft würde die EU verändern und die Türkei transformieren. Aber noch wichtiger ist, dass die EU eine Brücke zu einem demokratischen Land schlägt, das eine muslimische Bevölkerungs- mehrheit hat. Zu einem Zeitpunkt, wo Muslime in aller Welt die USA wegen ihrer Politik verdammen, kann die Nutzung der 'stillen Macht' der EU gar nicht überschätzt werden."

Auch die französische Zeitung LIBERATION glaubt an den großen Brückenschlag über den Bosporus:

"Gewiss ist die Aufnahme der Türkei in die EU ein Risiko, doch es ist ein lohnendes Risiko, bedenkt man die geostrategische Lage des Landes. Europa kann durch die Verbindung mit einem laizistischen, jungen, dynamischen und militärisch starken Land nur gewinnen. Das Risiko Türkei muss man mit Wagemut annehmen".

Die Zeitung KOMMERSANT aus Russland beobachtet aufmerksam die möglichen Verschiebungen der internationalen Einflusszonen:

"In den letzten Jahren hat sich die Konzeption der EU grundlegend geändert. Immer stärker versteht sich die EU als Macht, die über Europa hinaus eine wichtige Rolle spielen will. Eine Aufnahme der Türkei gäbe der EU nicht nur die einzigartige Chance, bis an die Grenze des strategisch wichtigen Nahen Ostens heranzurücken. Sie würde den Nachbarn das Signal geben, dass die Vorhut der modernen Welt bereit ist, alle aufzunehmen, egal woher sie geschichtlich und zivilisatorisch kommen."

Der CORRIERE DELLA SERA aus Mailand gibt sich zunächst einmal skeptisch und abwartend:

"Die Verhandlungen über einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union sollen am 3. Oktober 2005 beginnen. Vielleicht. An diesem Tag können gleichzeitig der Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung und der erste Schritt hin zu einer neuen europäischen Identität gefeiert werden. Vielleicht. Denn eigentlich haben in Brüssel - trotz der gegenseitigen Glückwunsch-Bekundungen - die Zweifel die Oberhand behalten. Es gibt überall Hindernisse bei dieser 'Verlobung', die sich schon jetzt für das Jahr 2015 als die qualvollste aller Hochzeiten darstellt."

Die Pariser Tageszeitung LE MONDE erinnert an den noch weiten Weg in die EU und mahnt:

"Die Türkei muss sich endgültig mit ihren Nachbarn und mit sich selbst, mit ihrer Geschichte, aussöhnen. Sie muss diese Aufarbeitung ihrer Vergangenheit akzeptieren, wie andere europäische Länder dies getan haben, um wahre demokratische Gesellschaften zu werden. Man denke an das schmerzende Gewissen des deutschen Volkes wegen der Shoa. Die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern 1905 hilft der Türkei nicht, sich von ihrer Geschichte zu befreien, indem sie sich ihr nicht voll stellt."

DE MORGEN aus Belgien setzt sich mit dem Argument auseinander, die moslemische Kultur könne niemals Teil der europäischen Identität sein und urteilt:

"Das ist im Grund eine kaum verholene Islamophobie. Dabei ist die Türkei das am meisten verweltlichte Land des Islam, wo die Trennung zwischen Kirche und Staat schon errungen war, als die katholische Kirche auf dem alten Kontinent noch übermäßige Macht hatte. Es ist ein Land, in dem die Frauen 20 Jahre vor den Belgierinnen das Wahlrecht bekamen."

Die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG aus der Schweiz beleuchtet noch einmal die Auseinandersetzung in Deutschland und die ablehnende Haltung des Unionslagers:

"Die deutsche Opposition scheint Europa gegen einen Türkensturm zu verteidigen und will das christliche Abendland retten, was aber nur durch einen Wahlsieg der CDU/CSU in Deutschland geschehen könnte. Ein solcher Wahlsieg und seine Folgen für Europa und die Türkenfrage bleiben aber höchst ungewiss. Die Festung Europa wird durch türkische Unterwanderung ohnehin weiter geschwächt, die wirtschaftliche und kulturelle Vielfalt auf dem alten Kontinent aber gestärkt werden."


Kommentiert und analysiert wurden in der internationalen Presse zudem der Wahlsieg der Opposition in Rumänien und die neue, große Koalition in Israel. Auch beim Thema Rumänien spielte die Perspektive für einen EU-Beitritt eine Rolle.

Der TAGESANZEIGER aus der Schweiz meinte zur Wahl des liberalen Oppositionsführers Traian Basescu zum neuen Präsidenten:

"Kommunistische Funktionäre wandelten sich schnell zu Sozialdemokraten und machten weiter wie zuvor. Auch Rivale Adrian Nastase und Basescu sind Kinder des Systems. Basescu wirkt aber ehrlich, wenn er behauptet, er werde endgültig mit dem Erbe des 1989 gestürzten kommunistischen Diktators Nicolae Ceausescu, mit Korruption und Vetternwirtschaft aufräumen. Wirtschaftsreformen sind unabdingbar, wenn Rumänien in die EU will. Und Basescu muss noch mehr tun. Um die Europäer von einem Beitritt zu überzeugen, wird er auch außenpolitisch punkten müssen."

Eine vernichtende Bilanz zieht die Zeitung DIE PRESSE aus Wien:

"Ob ein Präsident Basescu, der sich im Wahlkampf vor allem als entschlossener Kämpfer gegen die Korruption präsentiert hat, in diesen Prozess neuen Schwung bringen kann, ist zumindest fraglich - auf Grund der rumänischen Erfahrungen aber eher unwahrscheinlich. Denn schon bisher haben die Bürger in der noch jungen Demokratie fast bei jeder Wahl gegen die Regierung gestimmt. Gebracht hat es ihnen wenig: Eine korrupte Führung wird von der Opposition abgelöst - die sich, sobald sie die Macht hat, ihrerseits in undurchsichtige Machenschaften verstrickt. (...) Innerhalb der sozialistischen Regierungsmannschaft hat die Korruption derartige Ausmaße angenommen, dass die EU vor einiger Zeit sogar die Beitritts- gespräche mit Rumänien aussetzen wollte."


In Israel hat der rechtsgerichtete Ministerpräsident Ariel Scharon die sozialdemokratische Arbeitspartei mit in seine Regierung geholt. Das dänische Blatt BERLINGSKE TIDENDE ist voll des Lobes:

"Zum ersten Mal seit Jahren gibt es Grund zu einem gewissen Optimismus für die Entwicklung in Nahost. Eine große Koalition in Israel ist genau das, was jetzt vonnöten ist. Die Aufgabe nach der Ära Arafat besteht darin, alle die Kräfte bei Israelis und Palästinensern zu mobilisieren, die Dialog statt weiterer Konfrontation wünschen. (...) Man kann konstatieren, dass Scharon sich als großer politischer Stratege erwiesen hat, der sich selbst aus den schwierigsten Problemen herausmanövrieren und sogar noch konkrete Resultate erreichen kann. An diesen Qualitäten besteht in Nahost großer Bedarf."


Zum Abschluss sei hier noch einmal die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG zitiert, die sich mit Reformbereitschaft und Modernismus im Nahen Osten insgesamt beschäftigt:

"Die Aussen- und Finanzminister westlicher und einer Reihe arabischer Staaten haben sich in Rabat zu einem 'Zukunftsforum' getroffen, in dem Wege zu politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Reformen im Nahen und Mittleren Osten zu Sprache kamen. Das Treffen hat gezeigt, dass die Skepsis, ja unverhohlene Ablehnung, auf die US-Präsident George W. Bushs Initiative im letzten Jahr gestoßen war, noch keineswegs verflogen war. Der arabische Raum ist nicht das Osteuropa von 1989, das Jahrzehnte auf die Demokratie gewartet hatte. Zwang und Einmischung von aussen wird einen solchen Prozess eher erschweren als erleichtern. Demokratie ist nicht eine Huld, die ein Herrscher oder eine fremde Macht gewährt, sondern eine Freiheit, die sich die Völker selber erkämpfen."