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Internationale Pressestimmen der vergangenen Woche

Walter Lausch18. Juni 2005

Scheitern des EU-Gipfels

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Thema dieses Blickes in die internationale Presse ist das Scheitern des EU-Gipfels in Brüssel. Er sollte die Weichen für die Finanzierung der Union neu stellen. Der TAGES-ANZEIGER in Zürich schreibt:

"Nüchtern betrachtet, muss man wohl feststellen, dass an diesem EU-Gipfel das 'alte Europa' abgedankt hat. Der deutsch-französische Motor stottert nicht mehr nur, er ist abgestorben. Chirac hat nicht nur den Eindruck eines verwirrten alten Mannes hinterlassen, er hat auch den Machtkampf mit Blair klar verloren. Der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder ist derweil innenpolitisch so weit abgehalftert, dass er seinem französischen Freund keinen Beistand leisten konnte. Blair wird nun in zwei Wochen gestärkt die EU- Präsidentschaft übernehmen. Er muss aber abwarten, bis es in Deutschland mit Angela Merkel und in Frankreich mit Nicolas Sarkozy zum Machtwechsel kommt. Erst dann wird er die EU auf eine weniger zentralistische, marktorientierte, transatlantisch ausgerichtete Politik trimmen können. Das 'alte Europa' ist tot, aber das 'neue' ist noch nicht geboren."

Die TIMES aus London sieht das Ende des Wegs zu einem föderalen Superstaat:

"Die derzeitige Krise in der EU - und erstmals ist dieses Wort eher eine Untertreibung - stellt wohl endlich zurecht das Ende des Traums von einer stets weiter gehenden Vertiefung der Union dar, die letztlich zu einem föderalen Superstaat führen würde. Die Krise weist auf die alternative Zukunft eines verschlankten, weniger komplexen und dafür flexibleren Systems hin, das die derzeitigen Nachbarn der Union willkommen heißen würde. Die richtige Reaktion auf den Gipfel von Brüssel ist nicht Verzweiflung, sondern die Neudefinition Europas als einer Union von Partnern, die ungehindert mit Waren und Dienstleistungen Handel treiben und die im Rahmen der Subsidiarität den einzelnen Ländern mehr Entscheidungen überlassen als bisher."

Die ebenfalls in London erscheinende Wirtschaftszeitung FINANCIAL TIMES meint:

"Die nächste Zeit muss Schluss sein mit dem Herumbasteln an Institutionen. Stattdessen müssen sich die Politiker klar werden, wofür die Union gut sein soll und wie sie ihren 450 Millionen Bürgern zusätzlichen Nutzen bieten kann. Dabei müssen sie vor allem den sich abmühenden Volkswirtschaften Europas helfen, mit der Globalisierung fertig zu werden."

Für die Pariser LIBERATION bedeutet das Scheitern des Gipfels ein Waterloo für Europa:

"Europa treibt ohne Ruder, ohne Strategie und ohne Ziel dahin. Der britische Premier Blair will die wirtschaftliche Liberalisierung und die Reform seines eigenen Sozialmodells durchsetzen, der französische Präsident Chirac will mit Industriepolitik seinen Wehrturm des französischen 'Sozialmodells' und der Agrarsubventionen verteidigen. Weder Blair noch Chirac können mit der Unterstützung der Mehrheit der Europäer rechnen. Nötig ist ein Modell, das Flexibilität der Wirtschaft mit Sozialschutz verbindet ebenso wie Regulierung mit der Öffnung zur Weltwirtschaft. Dieses Modell bedarf außerdem demokratischer Zustimmung. Bis dahin hat an diesem 18. Juni Europa sein Waterloo erlebt."

Die GAZETA WYBORCZA aus Warschau weist auf die Kompromissbereitschaft der neuen EU-Staaten hin:

"Am Freitag kurz vor Mitternacht stand Europa auf dem Kopf. Die ärmsten Länder der Union wollten auf einen Teil des Geldes zum Nutzen der Reichen verzichten, um den gemeinsamen Haushalt zu retten. Die neuen Mitglieder zeigten den alten, dass man sich für das gemeinsame Wohl opfern kann. Schade nur, dass die 'alte' Union diese Geste nicht schätzte. Statt nach den Niederlagen der Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden zu zeigen, dass Europa handelt, bestätigten die Führer der Union die Bürger leider in der Überzeugung, dass das Handeln aufgehört hat. Wenn also die Herren Blair, Chirac, Balkenende nach Hause zurückkehren, um sich zu rühmen, dass sie die Interessen ihrer Länder verteidigt haben, lässt uns nicht applaudieren. Sie haben das auf Kosten des gemeinsamen Europas getan. Und eine schwächere Union bedeutet auch ein schwächeres Großbritannien, Frankreich und Niederlande."

Die Wiener Zeitung DIE PRESSE macht die wichtigsten europäischen Politiker persönlich für die Krise in der EU verantwortlich:

"Nicht die Institutionen der EU sind schuld daran, dass die kontinentaleuropäischen Volkswirtschaften stagnieren, oder, wie die italienische, in die Rezession geschlittert sind. Es sind die nationalen politischen Eliten, die versagen. Silvio Berlusconi, Jacques Chirac, Gerhard Schröder, Hans Eichel: Sie sind die Totengräber Europas, nicht irgendwelche anonymen Brüsseler Bürokraten. Die tun, was man ihnen aufträgt. Verantwortlich für die Misere sind die Regierungen in Paris, Rom und Berlin: Sie haben mit ihrer verfehlten Politik die europäische Krise heraufbeschworen, den Stabilitätspakt untergraben, Liberalisierungen verzögert, notwendige Reformen mit Blick auf die nächsten Wahlen anstehen lassen."

DE MORGEN aus Brüssel beschäftigt sich mit der Rolle der Niederländer bei den Verhandlungen:

"Das niederländische Nein zur europäischen Verfassung hat seine Auswirkung auf den EU-Gipfel gehabt. Selten war die niederländische Haltung zu Europa so unversöhnlich. In der Diskussion über die europäische Finanzplanung 2007 bis 2013 zeigten sich unsere nördlichen Nachbarn von ihrer härtesten Seite. Jedes Mal, wenn der luxemburgische EU-Vorsitz einen neuen Vorschlag lancierte, standen die Niederländer in der ersten Reihe, um ihn abzuschießen. Was ist das Problem? Die Niederländer wollen Geld. Viel Geld. Sie sind pro Kopf der Bevölkerung der größte Nettozahler der Europäischen Union. Nachdem die niederländische Bevölkerung gesprochen hatte, stand die Regierung an der Wand. Wenn es ihr nicht gelingt, den niederländischen Beitrag herunterzuhandeln, dürften die Tage der Balkenende-Regierung gezählt sein."

Zum Abschluss die Stimme von LA LIBRE BELGIQUE. Für die belgische Zeitung haben die Politiker den Kontakt zum Bürger verloren:

"Die Staats- und Regierungschefs haben selten die Gelegenheit, mit anderen Europäern zu sprechen. Bei offiziellen Besuchen wohnen sie in Palästen. Aus Gründen der Sicherheit oder des Prestiges benutzen die meisten nie öffentliche Verkehrsmittel. (...) Dabei kann man nur hoffen, dass sie in den beiden kommenden Jahren, die sie sich als Zeit des Nachdenkens in Brüssel genehmigt haben, tatsächlich die Begegnung mit den europäischen Bürgern suchen. Sie werden Männer und Frauen treffen, die größtenteils natürlich Europäer sind, aber mit Sorgen, die sich direkt auf ihre unmittelbare Umgebung beziehen: die Ausbildung der Kinder, die Arbeit, die hohen Lebenshaltungskosten, die Sicherheit in den Städten, die Armut der öffentlichen Verkehrsmittel, die Staus. Europa greift auf seine Art zunehmend in diese Bereiche ein. Es könnte mehr tun. Aber die Politiker wissen nichts davon. Man muss es ihnen sagen."