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Internationale Pressestimmen der vergangenen Woche

Stephan Stickelmann27. August 2005

Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Bundestagswahl / Wahlkampf in Deutschland / Würdigung sudetendeutscher Widerstandskämpfer durch tschechische Regierung

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Mehrere ausländische Tageszeitungen kommentieren die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die Klagen gegen die Bundestagswahl am 18. September abzuweisen. Aber auch der Wahlkampf in Deutschland in all seinen Facetten beschäftigt die Kollegen der Auslandspresse. Ein weiteres Thema ist schließlich die Würdigung sudetendeutscher NS-Gegner durch die tschechische Regierung. Zur Entscheidung der Karlsruher Richter heißt es in der BASLER ZEITUNG:

"Das Urteil, das das deutsche Verfassungsgericht gestern gefällt hat, vermag kaum zu überraschen. Zwar wiesen sogar Verfassungsrechtler darauf hin, dass die Vertrauensfrage 'unecht' gewesen sei. Doch ihre Mahnungen, das Grundgesetz nicht überzustrapazieren, blieben ungehört. Denn bereits bei der Entscheidung des Bundespräsidenten Horst Köhler galt ein anderer Maßstab, um Kanzler Schröders Weg zu Neuwahlen zu beurteilen. Nicht juristische Argumente, sondern politische Sachzwänge spielten bei Köhler und auch in Karlsruhe die entscheidende Rolle. Die Wahlmaschine ist in vollem Gang, sie jetzt noch zu stoppen, hätte Deutschland in ein politisches Chaos gestürzt."

Die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG ergänzt:

"So aber hat nun eine Aufweichung des Artikels 68 des Grundgesetzes stattgefunden, indem dieser künftig auch einer zielgerichteten Auflösung dienen kann. Damit wird ziemlich deutlich, mit welch atemberaubender Elastizität das Gericht in seinem jüngsten Urteil vorgegangen ist. Die politische Klasse mag dies begrüßen und sich jetzt mit vollem Elan in die Wahlschlacht stürzen. Aber das Karlsruher Urteil hinterlässt trotzdem bei vielen einen schalen Nachgeschmack."

Eher kritisch gestimmt ist auch der Schweizer TAGES-ANZEIGER:

"Es überrascht der fast einstimmige Spruch der Verfassungswächter. Entgegen der Praxis in den vergangenen Jahren, sich stark in die Politik einzumischen, haben sich die Richter ausgerechnet diesmal weggeduckt bei einer Kernfrage in parlamentarischen Demokratien, die gerade für Deutschland auf Grund seiner Geschichte so bedeutsam ist."

Und die BERNER ZEITUNG kommt zu dem Schluss:

"Die Karlsruher Entscheidung kennt zwei Gewinner: Einmal den Bundeskanzler, der sich durch das Urteil 'vollständig bestätigt' sieht. Die Macht des Kanzlers ist gewachsen. Der zweite Sieger heisst Werner Schulz, auch wenn er vor Gericht gerade verloren hat. Denn der Grüne hatte als einziger den Mut, öffentlich hinzustehen und Schröders Vorgehen zu kritisieren. Das Parlament müsse dem Volk dienen und nicht dem Kanzler, daran hat der Politiker aus dem Osten Deutschlands völlig zu Recht erinnert."

Damit wechseln wir das Thema und zitieren ausländische Pressestimmen zum Wahlkampf selbst. Die französische Zeitung LA TRIBUNE verbindet dieses Thema mit einem Blick auf die wirtschaftliche Lage in Deutschland - Zitat:

"Die Daten der deutschen Wirtschaft sind wie ein kleines Frühlingslüftchen, noch kein Grund in Freudenstürme auszubrechen, aber immerhin: Die ersten Anzeichen eines Aufschwungs sind in einer Wirtschaft fühlbar, die besonders gelitten hat. Diese Zahlen sind zu einem guten Teil auf die positiven Effekte der Exportrekorde Deutschlands zurückzuführen, das nicht umsonst Weltmeister in diesem Bereich ist. Darüber hinaus kann man aber auch die ersten Wirkungen der von Gerhard Schröder 2003 eingeleiteten Reihe von Strukturreformen zur Entlastung des Wohlfahrtsstaat erkennen. Das sind die Reformen, die dem Kanzler im vergangenen Mai eine historische Wahlniederlage in Nordrhein-Westfalen eingebracht haben. Schröder hat damit kein Glück, wenn er jetzt gegen die CDU von Angela Merkel verliert. Politischer Mut zahlt sich selten aus."

Der in Wien erscheinende STANDARD schreibt:

"Ich kann nicht mehr mit Rot-Grün, darum wählt mich, damit ich mit Rot-Grün weitermachen kann, lautet die ebenso krause wie verzweifelte Bitte von Kanzler Schröder. Wie wenig die Deutschen bereit sind, sich auf dieses widersprüchliche Flehen einzulassen, zeigen die Umfragen. Bei der Union strahlt zwar die Kanzlerkandidatin und leuchten die Umfragewerte wie ein Licht in dunkler Nacht, aber eine Vision hat man auch dort nicht. Rot-Grün hat versagt, jetzt müssen wir ran - das reicht CDU/CSU als Begründung für den angestrebten Machtwechsel. Was für ein Unterschied zu 1998, als Rot-Grün mit dem Ziel antrat, die Republik auch gesellschaftspolitisch zu verändern. Helmut Kohl schwärmte zu Beginn seiner Kanzlerschaft von der geistig-moralischen Wende. Angela Merkel, die schmerzhafte Reformen wie Hartz IV oder die Praxisgebühr mitgetragen hat, sagt bloß: Wir machen es besser. Kein Wunder, dass in Deutschland noch so viele Wähler unentschlossen sind."

Die französische Wirtschaftszeitung LES ECHOS vertieft noch die Analyse, was Unions-Kanzlerkandidatin Merkel angeht, und führt aus:

"Angela Merkel scheint sich auf die Defensive zu beschränken, während der 'Verlierer' Gerhard Schröder an einem offensiven Ton festhält, der ihm den Applaus der SPD-Anhänger einbringt. Erstere weiß nicht, ob sie die Macht mit der traditionellen Unterstützung der Liberalen der FDP übernehmen kann oder ob sie auf eine 'große Koalition' mit den Sozialdemokraten zurückgreifen muss, die aber durch die sozialen Kosten der Reformen schlecht dastehen. Wenn die Wahl am 18. September nicht in eine Periode der Unsicherheiten mündet, hat Angela Merkel die Chance von den Reformen Schröders zu profitieren, wie Tony Blair zu seiner Zeit aus dem wirtschaftlichen und gewerkschaftlichen Großreinemachen durch Margaret Thatcher Kapital schlagen konnte."

Die Zeitung NESAWISSIMAJA GASETA aus Moskau kommentiert die freundlichen Äußerungen des russischen Präsidenten Putin in einem Fernsehporträt über Kanzler Schröder:

"Die Sympathien des Kremls sind völlig offensichtlich. Doch ansonsten mischt er sich aus bitterer Erfahrung nicht offen in den deutschen Wahlkampf ein. Es ist paradox, aber alle russischen Versuche der Einflussnahme, sei es in der Ukraine oder früher die Unterstützung Jelzins für seine 'Freunde' in Deutschland oder Frankreich, führten genau zum Gegenteil. Der Ausgang der jetzigen Wahl in Deutschland hängt in keiner Weise von Moskau ab, aber ein gutes und partnerschaftliches Verhältnis mit Berlin hat für uns immer Priorität unabhängig von der jeweiligen Bundesregierung."

Nun die Meinung des tschechischen Blattes MLADA FRONTA DNES. Es lenkt die Aufmerksamkeit auf einen prominenten Helfer Schröders im vergangenen Wahlkampf - das Hochwasser:

"Alles schon einmal da gewesen: Man schrieb den August 2002, ein Teil Deutschlands versank in Hochwasser und Sandsäcken, da setzte Gerhard Schröder auf ein Flut-Krisenmanagement und zusätzlich auf die irakische Karte und rettete seinen Stuhl. Nun, drei Jahre später, wieder kurz vor einer Bundestagswahl, sehen die Deutschen ein ähnliches Szenario. Sicher - das Wetter gehorcht nicht Schröders Wünschen. Es ist aber gar nicht ausgeschlossen, dass die Überschwemmung erneut Wasser auf des Kanzlers Mühlen ist. Vielleicht wollte es ja das Schicksal so."

Noch einmal Themenwechsel: Die Zeitung PRAVO aus Prag geht auf die positive Würdigung sudetendeutscher Widerstandskämpfer durch die tschechische Regierung ein:

"Bei der von der sozialliberalen Regierung geplanten humanitären Geste gegenüber Antifaschisten handelt es sich nicht um eine Entschädigung von Nachkriegsvertriebenen, wie die konservative Opposition den Tschechen weiszumachen versucht. Sie ist vielmehr ein Akt grundsätzlicher menschlicher Anständigkeit, zu dem sich eine
tschechische Regierung längst hätte entschließen müssen. Obwohl die Benes-Dekrete nach dem Zweiten Weltkrieg die sudetendeutschen Widerstandskämpfer als Antifaschisten hätten schützen müssen, war die Praxis anders: Deutsch ist deutsch, also raus aus der Tschechoslowakei. Mehr als ein halbes Jahrhundert danach möchte Ministerpräsident Jiri Paroubek diesen Menschen wenigstens danken. Und auch eine Dokumentation über ihre Tätigkeit soll angelegt werden - damit sie nicht vergessen werden."

Das ebenfalls in Prag erscheinende Blatt LIDOVE NOVINY notiert schließlich:

"Diese Entschuldigung ist ein zwar unvollendeter, aber wichtiger und guter Schritt, und das mehr für Tschechen als für Deutsche. Er erinnert nämlich an die Tatsache, dass die Grenze zwischen Schuldigen und Unschuldigen des Faschismus nicht zwischen Nationen verlief. Denn wie es auf tschechischer Seite Kollaborateure gab, so gab es auch Deutsche, die Hitler nicht zustimmten und ihn sogar
bekämpften. Die humanitäre Geste ist ein lobenswerter Schritt, obwohl die angekündigten symbolischen Entschädigungszahlungen an ehemalige Widerstandskämpfer vorerst ausbleiben. In dem Umschlag nach Berlin fehlt demnach der versprochene Scheck. Aber wenigstens steht in dem Brief, dass nicht alle Deutschen, sogar nicht alle Sudetendeutschen, böse waren. Und das sollten auch Tschechen lesen."