1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Internationale Pressestimmen der vergangenen Woche

Hans-Bernd Zirkel24. August 2002

14 Tage Hochwasser / 100 Jahre Leni Riefenstahl

https://p.dw.com/p/2aKu

Die Hochwasserkatastrophe in Deutschland und ihr Einfluss auf den Bundestagswahlkampf waren in der vergangenen Woche herausragende Themen der europäischen Tagespresse. Die meisten Kommentatoren sahen Bundeskanzler Gerhard Schröder im Kampf gegen die Folgen der Fluten und um die Wählerstimmen als eindeutigen Punktsieger, der seinen Herausforderer Edmund Stoiber mehr und mehr in den Schatten stelle.

So war in der niederländischen, sozialdemokratisch orientierten Zeitung DE VOLKSKRANT aus Den Haag zu lesen:

"Das Hochwasser der Flüsse in Ostdeutschland und Bayern, die größte Katastrophe seit dem Krieg, hat Deutschland auf einen Schlag verändert. Die Klagen über Arbeitslosigkeit und schlechte Ausbildung sind verstummt. In der Stunde der Not scheinen die so unbeweglichen Deutschen gemeinsam anzupacken. (...) Die Ostdeutschen werden im Westen einmal nicht als benachteiligte 'Jammerossis' angesehen, sondern als Menschen, die in den letzten zehn Jahren tapfer den Wiederaufbau ihrer Städte und Dörfer angepackt haben und jetzt jede Hilfe verdienen. (...) Vom guten Gefühl, das die Deutschen derzeit über sich selbst haben, kann (Bundeskanzler) Schröder nur profitieren. Die Deutschen hatten sich über ihren Rückstand und über die Passivität der Regierung geärgert. Sie schienen schon bereit zu sein, es mit seinem Gegenkandidaten zu probieren, der auf seinen Plakaten eine 'Zeit für Taten' ankündigte. Aber durch das Hochwasser ist die Zeit für Taten schon vor den Wahlen gekommen, und Schröder steht stramm am Ruder."

Die linksliberale dänische Tageszeitung INFORMATION aus Kopenhagen meinte:

"Es fällt schwer, die Überschwemmungen in Deutschland nicht als launische Spielerei der Wahlgötter mit den Politikern in diesem Land zu sehen. Sie hatten sich in den Wochen zuvor in einem absehbaren Grabenkrieg zu Arbeitslosigkeit, Wirtschaft, Steuern und Renten festgefahren. Der konservative Herausforderer (Edmund) Stoiber übernahm die Führung in den Umfragen, während SPD und Grüne in der Regierung von Kanzler (Gerhard) Schröder täglich gedemütigt wurden. Alle ihre neuen Anläufe hatten einen Hauch von Panik. Aber dann stieg das Wasser, und nun ist alles anders. (...) Für die Grünen sind die Überschwemmungen wie die Wiederentdeckung der eigenen Daseinsberechtigung. Musste die Partei zuvor unter anderem für einen wenig zufrieden stellenden Ausstieg aus der Atomkraft gerade stehen, kann sie nun plötzlich mit einem neuen Thema eine gute Figur machen. Kanzler Schröder verfügt ebenfalls über neue Möglichkeiten. Statt sein Versagen auf dem Arbeitsmarkt erklären zu müssen, kann er jetzt Tatkraft demonstrieren."

Die belgische Tageszeitung LE SOIR sah es so:

"Der große Favorit in den Umfragen, der konservative Kandidat Edmund Stoiber, hatte für den Familienurlaub die kleine norddeutsche Insel Juist gewählt. ... Keine Interviews. Keine Unterbrechung des Urlaubs. Am 13. August stattete Stoiber lediglich Passau in Bayern einen Blitzbesuch ab, um dann wieder auf seine Insel zurückzukehren. Währenddessen stürzte sich Schröder, gesteuert von seinem legendären politischen Instinkt, ins Kampfgetümmel. Kaum drei Tage nach dem Beginn der Flut kündigte er auf allen Kanälen einen breit angelegten Plan zur Hilfe für die Opfer (...) an und rief alle Bürger zu Spenden auf. (...) Schröder hat die Deutschen daran erinnern können, dass er ein Mann der Tat ist, der die schwersten Krisen meistern kann."

Die britische Wirtschaftszeitung FINANCIAL TIMES stellte kurz und knapp fest:

"Das Hochwasser zeigt den Politiker Schröder in Hochform: staatsmännisch, charismatisch und entschlussfreudig. Es ist schade, dass er diese Qualitäten während des Großteils seiner Amtszeit nicht unter Beweis gestellt hat."

Der Kommentator der linksliberalen britischen Zeitung THE INDEPENDENT aus London urteilte:

"Die Hochwasser-Katastrophe hat dafür gesorgt, dass der Ausgang der Bundestagswahl nun wieder völlig offen ist. Die Themenliste ist dadurch völlig umgeworfen worden, und Mr. Schröder wurde in die Lage versetzt, jene Mischung aus persönlicher Genialität und politischer Kompetenz zur Schau zu stellen, die ihm vor vier Jahren schon einmal den Sieg eingebracht hat. In normalen Zeiten würde ein Politiker, der ein Versprechen zur Steuersenkung zurücknimmt, abgewählt. Aber dieser Bundestagswahlkampf ist nicht mehr normal - und des Kanzlers Sache ist noch nicht verloren."

Mit einem kritischen Unterton bemerkte die in Paris erscheinende Wirtschaftszeitung LA TRIBUNE:

"Der deutsche Kanzler geizt nicht mit Mitteln, um die Schäden durch das Hochwasser auszugleichen. Mitten im Bundestagswahlkampf zieht er seinem Gegner Edmund Stoiber den Teppich unter den Füssen weg. (...) Der sozialdemokratische Kanzler scheint entschlossen, das Unglück seiner Mitbürger auszuschlachten."

Dem hielt die schweizerische Zeitung DER BUND aus Bern entgegen:

"Man kann Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), dem das Wasser politisch bis zum Hals steht, bei seinem entschlossenen Eingreifen für die Menschen, die tatsächlich in den Drecksbrühen stehen, schnödes Wahlkampfkalkül vorwerfen. Sicher. Schröder wäre nicht Schröder, wenn er das nicht täte. Den Vorwurf können aber nur solche Kommentatoren an die erste Stelle der Bewertungen stellen, die nicht mit eigenen Augen die Verwüstungen in Ostdeutschland gesehen haben. Fernsehbilder sind nicht dasselbe wie die Eindrücke der eigenen Augen. Es ist nichts als Schröders Pflicht, in solchen Situationen Führungsstärke zu beweisen."

Zum Schluss noch ein Zitat aus der russischen Tageszeitung NESAWISSIMAJA GASETA, die sich auf ihrer Titelseite mit dem 100. Geburtstag der deutschen Filmregisseurin Leni Riefenstahl am vergangenen Donnerstag befasste:

"Einst jubelte das deutsche Volk Hitler zu. Und Leni Riefenstahl teilte die Begeisterung ihrer Landsleute. Wer damals nicht für Hitler war, fand sich in der Emigration wieder. Oder an ganz anderen, noch unangenehmeren Orten. (...) Leni war fasziniert von der Schönheit. Sei es die bösartige Gotik der Nürnberger Reichsparteitage, die Ästhetik muskulöser Sportlerkörper oder die klare Luft der Berge. Das Problem war nur, dass sie als Künstlerin sich und der Welt suggerierte, dass es zwischen diesen Motiven keinen Unterschied gebe. Damals hatte sie die Wahl zwischen Hollywood und Hitler. Ihre Entscheidung ist bekannt. So wurde sie zur einzigartigen, großartigen und schrecklichen Leni Riefenstahl."