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Internationale Pressestimmen der vergangenen Woche

Hans-Bernd Zirkel7. Juni 2003

Zustimmung der SPD zur 'Agenda 2010' / Jürgen W. Möllemanns plötzlicher Tod

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Die Zustimmung des SPD-Sonderparteitags zum Reformprogramm 'Agenda 2010' und der plötzliche Tod des früheren FDP-Politikers Jürgen W. Möllemann waren in der europäischen Tagespresse die meistbeachteten deutschen Themen dieser Woche.

Die britische Zeitung THE GUARDIAN hob die europapolitische Bedeutung des SPD-Parteitags hevor:

"Das wichtigste Ereignis des (vergangenen) Wochenendes war die Zustimmung der SPD von Bundeskanzler Gerhard Schröder zu den deutschen Sozialreformen. In den kommenden Jahren könnte die Entscheidung der SPD als ein wichtiger Wendepunkt in der europäischen Geschichte angesehen werden. Es ist eine Entscheidung, die für die EU als Ganzes von Bedeutung ist. Großbritannien sollte dieser Abstimmung Aufmerksamkeit schenken. In den nächsten Tagen werden wir im Zusammenhang mit der Euro-Debatte oft hören, dass Deutschland seine starren Strukturen lockern muss. Jetzt, wo die Liberalisierung in Deutschland in Gang gesetzt worden ist, gibt es kaum noch einen Grund für Schatzkanzler Gordon Brown, die Euro-Entscheidung immer und immer wieder zu verschieben."

Auch der Kommentator der österreichischen Tageszeitung DIE PRESSE bezeichnete das Ergebnis des Parteitages als Wendepunkt:

"Die Reformen der schröderschen 'Agenda 2010' - so wenig revolutionär sie auch sind - markieren einen Wendepunkt. Seit fast 140 Jahren sieht sich die SPD als Motor des Fortschritts, hat Sozialleistung auf Sozialleistung gehäuft - und muss nun auf einmal erkennen, zu weit und fehl gegangen zu sein, muss erstmals Fortschritt durch sozialen Rückbau sicherstellen. Sie hat erkannt, dass die Frontstellungen viel komplizierter geworden sind als das althergebrachte 'Kapitalisten gegen Arbeiter'. Dass es etwa zunehmend auch '(junge) Beitragszahler gegen (alte) Leistungsempfänger' heißt. Die SPD zeigt sich gewillt, Zukunftssicherung auch zum Preis der Aufgabe sozialdemokratischen Traditionserbes zu wagen - das sollte auch anderswo Schule machen."

Die belgische Tageszeitung LE SOIR aus Brüssel kommentierte:

"Mit 90 Prozent der Stimmen erringt Gerhard Schröder einen strahlenden Erfolg über seine Widersacher. Umso mehr, als es die Basis der Partei war, die ihm diesen Sonderparteitag in Berlin aufgezwungen hat, damit er seine Vorhaben verteidigt. (...) Eine Niederlage bei diesem Sonderparteitag hätte eine schwere Regierungskrise und möglicherweise einen politischen Wechsel zur Folge gehabt. Das haben die Delegierten gut verstanden, als sie massiv für Schröder stimmten. (...) Die nächste Etappe für die Reformen des Sozialsystems und des Arbeitsmarktes, für die in der 'Agenda 2010' nur die großen Linien vorgegeben sind, steht im Bundestag an. Dort wird Gerhard Schröder erneut kämpfen müssen, um seine Sicht der Dinge durchzusetzen."

Die in Madrid erscheinende Zeitung ABC gab zu bedenken:

"Es ist nicht leicht für ein reiches Land einzusehen, dass es sich im Niedergang befindet. Noch schwerer ist es, diesen Niedergang abzuwenden. Dazu braucht man eine starke und entschlossene politische Führung. Diese ist bei Gerhard Schröder nicht gegeben. Der Bundeskanzler ist ein Populist mit kurzem Atem. Seine Hoffnung beruht darauf, dass die Opposition kaum besser dasteht. Die Schlacht in der SPD hat Schröder gewonnen. Nun beginnt der Kampf gegen die Rezession. Hier liegt er arg im Hintertreffen."

Die russische Zeitung KOMMERSANT hielt den Streit in der SPD für noch nicht beendet:

"Noch kann Schröder keinen Sieg feiern. 12 Bundestagsabgeordnete der SPD versteifen sich in ihrem Widerstand gegen den Kanzler. Wenn man bedenkt, dass die Mehrheit der rot-grünen Koalition nur neun Stimmen beträgt, kann Schröder nicht mehr als vier Abgeordneten eine abweichende Haltung erlauben. Bis zum August, wenn die Reformen in den Bundestag kommen, muss die Regierung sich nicht nur mit diesen Aufständischen einigen, sondern auch die Beziehungen zu den Gewerkschaften klären, der Stammwählerschaft der SPD."

Skeptisch auch der Kommentar der dänischen Tageszeitung JYLLANDS-POSTEN aus Århus:

"Das Problem mit der 'Agenda 2010' wird auf jeden Fall darin bestehen, dass sie in der Sekunde der endgültigen Verabschiedung veraltet ist. Was vor einigen Monaten als harte Rosskur erschien, erweist sich schon heute als zu wenig. Für Schröder ist es politisch wichtig, das Programm durchzubekommen. Aber wirtschaftlich bedarf es allem Anschein nach viel schärferer Maßnahmen."

Die BASLER ZEITUNG beschäftigte sich mit dem tödlichen Fallschirmsprung des früheren FDP-Spitzenpolitikers Möllemann:

"Der Respekt vor dem toten Jürgen W. Möllemann fordert, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Unfall, Sabotage oder aber Suizid - noch sind viele Fragen offen. Und doch mischt sich in den Schock der Todesnachricht eine Irritation, ein Unbehagen, das auch aus den verhaltenen Würdigungen deutscher Spitzenpolitiker zu sprechen schien. Unzweifelhaft erlebte Möllemann seit der verlorenen Bundestagswahl einen atemberaubenden Abstieg. Er verlor seine Ämter, er verlor sein Ansehen, er wurde nicht mehr ernst genommen. Ein Homo politicus wie Möllemann muss dieses Verschwinden in der Bedeutungslosigkeit als Vernichtung empfunden haben. Von einem Feldzug auf seine Existenz hat er ja auch gesprochen. Rundumschläge sind halt seine Art, hatte man gedacht. Nun also soll der als «Stehaufmännchen» charakterisierte Politiker einfach Schluss gemacht haben? Die Frage quält, und eine zweite noch fast mehr: Der frühere PR-Berater brachte seine liberale Politik mit allen Regeln der Kunst unter das Volk - und jetzt soll der Katholik auch seinen Tod, der anders als ein Moment völliger Verzweiflung kaum denkbar ist, als Show vollzogen haben? Es ist dieser Tabubruch, der einen fassungslos macht."

Zum Schluss noch einmal die in Moskau erscheinende Tageszeitung KOMMERSANT:

"Jürgen Möllemann ist aus der Politik gestürzt. (...) Er zählte zu den schillerndsten deutschen Politikern. Er gab seiner Partei die Hoffnung auf eine blühende Zukunft und schaufelte ihr selbst das Grab. Seine umstrittenen Äußerungen und Kommentare entfesselten einen grässlichen Skandal, der die Niederlage der Freien Demokraten bei den Bundestagswahlen im September des Vorjahres herbeiführte."