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Internationale Pressestimmen der vergangenen Woche

20. September 2003

Chirac in Berlin / Blair und Chirac in Berlin / Neonazis in Bayern

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Die deutsch-französischen Konsultationen am Donnerstag und der deutsch-französisch-britische Gipfel am Samstag in Berlin riefen bei den Kommentatoren der europäischen Tagespresse ein großes Echo hervor. Die Pariser Zeitung LE MONDE wertete das Treffen Schröder-Chirac als den Beginn einer neuen Phase der Zusammenarbeit:

"Die EU-Vergrößerung und die Ausarbeitung der europäischen Verfassung haben Paris und Berlin nach schwierigen Jahren von ihrem beiderseitigen Interesse an gemeinsamen Lösungen überzeugt. Die Feier im Schloss von Versailles zum 40. Jahrestag des Elysée-Vertrags sollte die neugeschlossene Vernunftehe krönen. Aber die Irak-Krise, in der beide Länder die selben Positionen gegen die Vereinigten Staaten und die europäischen Transatlantiker verteidigten, hat dieser Neuauflage eine unerwartete Dimension gegeben. Sie hat zwischen den Regierungen, zwischen den beiden Gesellschaften, einen Schwung des Vertrauens erzeugt, der Fortschritte möglich macht. Stoßen sie ihre Partner nicht vor den Kopf, können beide Staaten zusammen einen wesentlichen Beitrag zum Bau des neuen, erweiterten Europas leisten."

Ob dies aber mit dem von beiden Ländern angekündigten Plan zur Ankurbelung der Wirtschaft geschieht, wurde von der in Bordeaux erscheinenden Regionalzeitung SUD-OUEST bezweifelt:

"Der deutsch-französische Plan für Wachstum und Beschäftigung wäre glaubwürdiger, wenn er nicht in der Not mit heißer Nadel gestrickt worden wäre - von den beiden europäischen Ländern, die den übrigen am wenigsten Lektionen erteilen dürfen, weil sie beide im gleichen Schlammassel stecken. (...) Daher ist es nicht sicher, dass die deutsch-französische Initiative von den europäischen Partnern mit Enthusiasmus aufgenommen wird. (...) Man wird Frankreich und Deutschland vorhalten, dass ein solcher Plan nur dann zu mehr Wachstum und Beschäftigung führt, wenn er von Reformen begleitet wird, die die notwendigen Finanzmittel freimachen und die Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellen. Beide Länder teilen nämlich einige Übel, die sich in einer Welt mit erbarmumgslosem Wettbewerb als seriöse Hindernisse erweisen könnten: eine verknöcherte Verwaltung, ein Sozialsystem, das die Sicherheit zu Lasten der Risikofreudigkeit begünstigt, und schließlich eine Vorliebe für Freizeit anstatt für Arbeit."

Ähnlich sah es die britische Zeitung DAILY TELEGRAPH:

"Die beiden führenden Politiker Deutschlands und Frankreichs haben ein pompöses Investitionsprogramm in Milliardenhöhe angekündigt. Beide Länder haben große Haushaltsdefizite und verstoßen damit gegen den europäischen Stabilitätspakt. Und doch haben Schröder und Chirac alle Fragen dazu, wie sie die Projekte finanzieren wollen, leichtfertig abgetan. (...) Die Initiative soll in diesem Monat anderen EU-Mitgliedern vorgestellt werden. Aber es ist sicher, dass sie von kleineren Staaten der Eurozone kritisiert werden wird. Sie haben Brüssel schon gebeten, gegen Frankreich und Deutschland Geldstrafen wegen ihrer verschwenderischen Haushaltspolitik zu verhängen."

So meinte denn auch die FINANCIAL TIMES aus London, mit Vorrang müsse zunächst einmal eine Reform des Stabilitätspaktes betrieben werden:

"Mit der Ablehnung des Euro hat Schweden auch die Frage aufgeworfen, wie die Eurozone ihre Wachstumsraten erhöhen kann und damit für neue Mitglieder attraktiver wird. Die neue deutsch-französische Wachstumsinitiative ist dafür nicht das richtige Mittel. Paris und Berlin sollten sich darauf konzentrieren, ihre Staatsausgaben wieder in die Grenzen des Stabilitätspaktes zu bringen. Dieser Pakt muss langfristig rationaler gestaltet werden. Es macht sicherlich keinen Sinn, die anstehende EU-Regierungskonferenz durch Verhandlungen über den Stabilitätspakt zu erschweren. Frankreich und Deutschland sollten aber daran arbeiten, vernünftige Vorschläge für die Wirksamkeit des Paktes machen."

Die spanische Zeitung EL PAÍS stellte fest:

"Frankreich und Deutschland sind ein wenig anmaßend, aber sie bilden eine Achse, die für das Funktionieren Europas unverzichtbar ist. Angesichts der EU-Erweiterung, der Streitigkeiten infolge des Irak-Konflikts und des Neins der Schweden zum Euro sind Paris und Berlin fest entschlossen, die europäische Einigung voranzutreiben. Sie setzen auf ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Dabei bilden sie - natürlich - die Vorhut. In Berlin traf sich das 'neue Europa', und zwar nicht das, von dem US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld sprach. Vielleicht sollte Spanien sich der deutsch-französischen Avantgarde anschließen, statt mit US-Präsident George W. Bush zurückzubleiben."

Mit Blick auf die transatlantischen Beziehungen wertete die römische Zeitung LA REPUBBLICA das Treffen so:

"Frankreich und Deutschland schicken ein klares Signal der Entspannung an das Amerika des George Bush. Zum ersten Mal erklären sie sich bereit, irakische Polizei- und Militärkräfte auszubilden, um so zum Wiederaufbau des Landes beizutragen. Jacques Chirac und Gerhard Schröder bestätigen damit ihre Bereitschaft, die angloamerikanische Besetzung des Iraks zu legitimieren, indem sie eben diese als ein gegebenes Faktum anerkennen. Nun wollen sie Amerika nicht alleine lassen."

Spanische und italienische Blätter kritisierten aber auch, dass die Regierungschefs ihrer Länder nicht zum deutsch-französisch-britischen Gipfel am Samstag nach Berlin eingeladen wurden. So bemerkte die spanische Tageszeitung EL MUNDO:

"Es ist ganz offensichtlich, dass Gerhard Schröder und Jacques Chirac den spanischen Ministerpräsidenten José María Aznar vom Gipfel in Berlin ausgeschlossen haben. Spanien hätte bei dem Treffen unbedingt vertreten sein müssen. Es zählt zu den exponierten Befürwortern der US-Linie im Irak-Konflikt, und es gehört als nicht-ständiges Mitglied dem Weltsicherheitsrat an. Man muss sich nun fragen, wie lange Paris und Berlin noch Aznar für seine proamerikanische Haltung bestrafen wollen. Ebenso stellt sich die Frage, ob es sich für Spanien auf lange Sicht auszahlt, mit den USA exzellente Beziehungen zu unterhalten und auf der Gegenseite den guten Kontakt zur zentralen Achse der Europäischen Union zu verlieren."

In der Mailänder Tageszeitung CORRIERE DELLA SERA war zu lesen:

"Der wahre Eindruck ist, dass bei der Vorbereitung des Berliner Treffens Italien wirklich niemandem in den Sinn gekommen ist. Das einzige Tauziehen über das Ausmaß des Gipfels soll sich laut gut informierten Quellen darum gedreht haben, ob - wie von den Engländern gewünscht - auch der spanische Ministerpräsident José María Aznar eingeladen werden sollte. Aber Berlin und Paris waren unnachgiebig."

Zum Schluss die österreichische Tageszeitung DER STANDARD aus Wien, die sich mit dem Fall der in Bayern aufgedeckten neonazistischen Anschlagspläne gegen jüdische Einrichtungen beschäftigte:

"Was bei den jetzigen Ermittlungen ans Licht kam, zeugt von einer neuen Dimension der Bedrohung. Ganz gezielt sollten offenbar möglichst viele Menschen zu Schaden kommen. Beschwichtigungsversuche, es handle sich nur um Einzeltäter wie den Neonazi Gundolf Köhler, dessen Bombenanschlag auf dem Münchner Oktoberfest 1980 zwanzig Menschen in den Tod riss, ziehen nicht mehr. Es wird immer deutlicher: Hier handelt es sich um ein internationales Netzwerk. (...) Der Kampf gegen den braunen Sumpf geht alle an. Verharmlost wurde lange genug."

Zusammengestellt von Hans-Bernd Zirkel