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Internationale Pressestimmen der vergangenen Woche

Stephan Stickelmann11. Oktober 2003

Reformpolitik in Deutschland / Schuldenabbau in Frankreich / tschetschenische Präsidentschaftswahlen / Friedensnobelpreis 2003

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Die Reformpolitik in Deutschland war auch in dieser Woche ein Kommentarthema der europäischen Tageszeitungen. Meinungsbeiträge gab es ferner zum schleppenden Schuldenabbau in Frankreich, zu den tschetschenischen Präsidentschaftswahlen sowie zur Verleihung des Friedensnobelpreises an die iranische Bürgerrechtlerin Schirin Ebadi. Zum ersten Thema: Nach Ansicht der FINANCIAL TIMES aus London braucht die Bundesrepublik weitreichende Strukturreformen:

"Dazu gehört eine Reform des Arbeitsmarktes - mehr Vertrags-Flexibilität, ein blühender Niedriglohnsektor, das Herunterschrauben von Betriebsräten in kleinen und mittleren Unternehmen. Deutschlands archaische Wettbewerbsgesetze gehören auf den Müll. Der Finanzsektor muss restrukturiert und konsolidiert werden. Die Liste ist lang. Alle diese Strukturfaktoren sind vielleicht nicht der unmittelbare Grund für den gegenwärtigen wirtschaftlichen Abschwung in Deutschland. Aber sie müssen angegangen werden, wenn sich Deutschland aus seiner misslichen Lage befreien will." Der in Wien erscheinene STANDARD warf in diesem Zusammenhang einen Blick auf die Reformvorschläge der CDU und kam zu dem Schluss:

"Wenn Gerhard Schröder am Abend des 17. Oktobers nicht zurücktreten muss, dann kann er sich bei der CDU bedanken. Denn das Konzept der größten Oppositionspartei zur Reform der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland kommt für ihn gerade rechtzeitig. Jene, die mit Schröders Kurs Probleme hätten, sollten sich genau anschauen, was der politische Gegner vorhabe, heißt es in der SPD. Ein Blick auf die CDU-Pläne dürfte den Kritikern die Zustimmung zu Schröders Reformagenda bei der Abstimmung im Bundestag tatsächlich erleichtern und die Kanzlermehrheit - nur vier Stimmen mehr als die Opposition - sichern helfen."

Themenwechsel: Die französiche Regierung hat in dieser Woche eingeräumt, dass sie auch für 2004 mit einem Überschreiten der EU-Defizitgrenze von drei Prozent rechnet. Dazu hieß es in der Pariser LIBÉRATION:

"Nur weil es offensichtlich war, hat Raffarin eingestanden, dass Frankreich wirtschaftlich eine schwere Zeit durchmacht. Die Regierung hat ein Jahr verloren, weil sie auf eine Konjunkturbelebung setzte, die dann ausblieb. Mit dem Haushaltsdefizit sitzt sie nun in der Falle und hat keine zusätzlichen Pfeile mehr im Köcher. So gesteht die Regierung indirekt ihre Machtlosigkeit ein, indem sie mit den deutschen Freunden auf eine Belebung auf europäischer Ebene baut. Das ist eine wacklige Aussicht: Bis die europäischen Partner überzeugt und die Projekte auf den Weg gebracht sind, bis sich schließlich auch noch die Auswirkungen bemerkbar machen, hat die Rezession Zeit, sich auf Dauer einzurichten. So bleibt die Regierung letztlich bei ihrem alten monotonen Gesang: Geduld, denn der Aufschwung steht unmittelbar bevor."

Die ostfranzösische Zeitung LIBERTÉ DE L'EST ergänzte:

"Jean-Pierre Raffarin, der selbst in der schwärzesten aller Situationen noch positive Signale auszumachen beliebt, hat wieder einen Grund gefunden, optimistisch zu sein: Nach dem Statistik-Institut INSEE bleibt Frankreich die Rezession erspart, mit einer Wachstumsrate von 0,2 Prozent. Aber Frankreich liegt damit unter dem Durchschnitt der Länder der Euro-Zone, deren Wachstum für das laufende Jahr bei 0,4 Prozent liegt. Das Schlimmste ist, dass das Wachstum in Europa - wie in Frankreich - nur dank des Einflusses der USA positiv bleibt. Es liegt doch etwas Paradoxes in dieser Situation, in der Frankreich, das bei jeder Gelegenheit auf seine Unabhängigkeit pocht - vor allem in der Diplomatie -, nun sein wirtschaftliches Heil in dieser amerikanischen Stütze findet."

Und LE MONDE aus Paris meinte:

"Die französische Regierung sollte jetzt aufhören, auf eine wieder erstarkende Konjunktur zu bauen, und stattdessen zur Kenntnis nehmen, wie alarmierend die wirtschaftliche Lage des Landes geworden ist. Die größte und schwerwiegendste Überraschung ist nicht, dass das Wachstum in diesem Jahr sehr nahe an Null liegt. Es geht vielmehr darum, dass Frankreich inzwischen stärker leidet als seine Nachbarn. Im Jahr 2004 könnte die französische Wirtschaft erstmals seit 1995 wieder weniger schnell wachsen als die deutsche. Und wenn sich der Dollar weiterhin zum Euro abschwächen sollte, wer dürfte dann nach den Analysen der Experten ganz unvermeidlich mehr leiden als die anderen? Frankreich!"

Soweit zu diesem Thema. Die russische Tageszeitung ISWESTIJA betrachtete den Ausgang der Präsidentenwahlen in Tschetschenien als Chance für einen Neuanfang in der zerstörten Kaukasus-Republik. Das Blatt führte weiter aus:

"Der Weg der Tschetschenen zu den Wahlurnen war sehr lang. Zwölf Jahre Anarchie, Chaos und Bürgerkrieg, zwei Jahre Politik zur 'Wiederherstellung der verfassungsrechtlichen Ordnung' und vier Jahre Anti-Terror-Kampf. Tausende Tote, Verletzte, hunderttausende zerstörte Lebensschicksale. Das war der Preis für jeden Stimmzettel, der in die Urne geworfen wurde. Es gibt in Tschetschenien keinen von allen Clans anerkannten Präsidenten. Es kann ihn in der derzeitigen Situation auch nicht geben. Die Tschetschenen haben aber bewusst dafür gestimmt, dass sie in Zukunft nach dem Gesetz und nicht mehr nach persönlichen Meinungen leben. Ein Mord soll als Verbrechen geahndet werden und nicht mehr nur Statistik sein. Zudem wollen die Tschetschenen wieder als Bürger ihres Landes leben und nicht mehr als 'Terroristen'."

Deutlich kritischer war das Urteil der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG:

"Es bleibt ein tiefes Rätsel, weshalb Putin sich die Chance entgehen ließ, in Tschetschenien eine faire und freie Wahl zuzulassen. Er hätte damit nach innen und außen den ernsthaften Willen zu einem politischen Neuanfang demonstrieren können. Selbst wenn Kadyrow in einem halbwegs offenen Rennen die Wahl gewonnen hätte, so wäre es seinen zahlreichen Feinden ungleich schwerer gefallen, ihm die Legitimität für seine neue Funktion abzusprechen. Nach dem farcenhaften Wahlgang aber scheint ein Arrangement mit den gemässigteren Strömungen unter den tschetschenischen Separatisten so weit entfernt wie zuvor."

Auch EL PAÍS - die Zeitung erscheint in Madrid - gelangte zu der Einschätzung:

"Die Wahl in Tschetschenien hat einen Haken. Russlands Präsident Wladimir Putin versteht unter Normalisierung die totale Unterwerfung Tschetscheniens. Für ihn geht es um den Kampf gegen den 'internationalen Terrorismus'. Dass die tschetschenische Bevölkerung gnadenlos unterdrückt wurde, scheint dabei keine Rolle zu spielen. Die Staaten der Europäischen Union schauen lieber weg. Fortschritt und Stabilität in Russland sind für den Weltfrieden von grundlegender Bedeutung. Die Befriedung Tschetscheniens ist ein Teil dieses Prozesses. Mit einer Wahlfarce und mit Typen wie Achmat Kadyrow wird man jedoch weder das eine noch das andere erreichen."

Und THE INDEPENDENT aus London resümierte:

"Der hohle Sieg von Achmat Kadyrow löst das Problem in Tschetschenien nicht. Der Westen, das heißt: die Vereinigten Staaten und die Europäische Union, sollten ihre Bedenken kollektiv und offen aussprechen. Der Grund, warum das aber nicht passieren wird, ist Wladimir Putin. Der russische Präsident hat es bisher großartig verstanden, westliche Eitelkeiten und Differenzen meisterhaft auszunutzen. Als Gegenleistung für ein russisches Stillhalten in Afghanistan haben US-Präsident George W. Bush und der britische Premierminister Tony Blair zugesagt, in Tschetschenien wegzuschauen. Das hat Putin allerdings nicht daran gehindert, sich im Irak-Konflikt auf die Seite von Frankreich und Deutschland zu stellen. Er ist mit diesem Stück brillanter Diplomatie, vermutlich aus Gründen der geo-politischen Bedeutung Russlands, davongekommen."

Und damit noch einmal Themenwechsel: Zur Verleihung des Friedensnobelpreises an Schirin Ebadi schrieben die DERNIÈRE NOUVELLES D'ALSACE aus Frankreich:

"Mehr als in den Vorjahren hat der Friedensnobelpreis 2003 eine echte politische Dimension und sogar einen religiösen Anstrich, der sich gegen den Integrismus richtet. Diese Auszeichnung, die streng grundrechtsorientierte Skandinavier der weltoffenen Muslimin Schirin Ebadi verliehen haben, zeigt mit aller Deutlichkeit, dass der Islam und die Demokratie miteinander vereinbar sind. Die nach dem 11. September aufgebrochenen Gräben sollten das Gegenteil beweisen. Dies ist eine klare Absage an Mullahs, Ajatollahs und andere Vertreter der schiitischen Obrigkeit, die seit der islamischen Revolution von 1979 die Frau zu einer Kreatur zweiten Ranges reduziert haben."

Und AFTENPOSTEN aus Norwegen konstatierte:

"Die diesjährige Trägerin des Friedensnobelpreises, Schirin Ebadi, hat eine Rolle in Iran gewählt, mit der sie bisher nicht aus ihrer Gesellschaft ausgeschlossen worden ist. Vor diesem Hintergrund verdient die Vergabe kräftige Unterstützung. Viele ihrer Landsleute hören auf sie, wenn sie sagt, dass der Islam mit Respekt vor den Menschenrechten und Demokratie vereinbar ist. Sie tun dies in einem Iran, der auf der Kippe zwischen Reformen und der Reaktion steht und eine regionale Großmacht ist. Iran ist ein Schlüsselland in seinem Teil der Welt. Aber die westlichen Länder müssen vorsichtig vorgehen und sich vor grenzenlosen politischen Missionsempfehlungen hüten, sondern stattdessen Respekt vor Traditionen zeigen, die nicht unsere eigenen sind."