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Interview: "Ich befürchte Unruhen"

Sabine Hartert-Mojdehi15. Juni 2012

Die Auflösung des ägyptischen Parlaments birgt viel Ungewissheit für die Zukunft des Landes. Noch ist nicht klar, wer am Ende als Sieger hervorgehen wird, sagt der Ägypten-Experte Hamadi El-Aouni.

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Das Gebäude des Verfassungsgerichts in der ägyptischen Hauptstadt Kairo (Foto: REUTERS)
Ägypten Verfassungsgericht KairoBild: Reuters

Deutsche Welle: Die Moslembrüder haben die Auflösung des ägyptischen Parlaments als Staatsstreich bezeichnet. Was ist dran an dieser Behauptung?

Hamadi El-Aouni: Es gibt ein Verfassungsgerichtsurteil, dessen Begründung ich noch nicht kenne. Man muss die Ereignisse zusammennehmen. Einmal das Verfassungsgerichtsurteil zur Auflösung des Parlaments und dann die Freisprüche der Söhne von Mubarak und derjenigen, die Demonstranten getötet haben. Ich glaube, das steht in direkter Verbindung. Vielleicht nicht das ganze Militär, aber Reste des alten Regimes sind noch immer aktiv und versuchen, das Rad der Geschichte zurückzudrehen.

Wie konnte das Verfassungsgericht zu dieser Entscheidung kommen, die Parlamentswahlen gerade jetzt als verfassungswidrig einzustufen, also zwei Tage vor der Stichwahl zum Präsidenten?

Wahrscheinlich sollte es ein zusätzliches Druckmittel zugunsten des Kandidaten des alten Regimes, Ahmed Schafik, sein. Die erste Reaktion der Moslembrüder darauf war, dass sie gedroht haben, ihren Kandidaten zurückzuziehen. Auch die revolutionäre Jugend hat Mohammed Mursi zu diesem Schritt aufgefordert, um dem zweiten Wahlgang keine Legalität zu verleihen. Mursi möchte aber antreten, er will Präsident Ägyptens werden. Mit dem einzigen Programmpunkt, die Wiedereinführung des alten Regimes zu verhindern.

Hamadi El-Aouni (Foto: DW)
Der Politikwissenschaftler Hamadi El-Aouni von der FU Berlin

Sie hatten ja schon erwähnt, dass man die Auflösung des Parlaments im Zusammenhang mit dem Freispruch der Söhne Mubaraks sehen muss. Wer hatte denn in diesem Prozess seine Hand im Spiel? Wollten sich die alte Garde und das Militär so der Islamisten, der Moslembrüder, entledigen?

Sie schieben sich die Bälle gegenseitig zu. Militär und Moslembrüder, jeder will auf seine Art Ägypten regieren. Allerdings ist die bisherige Bilanz der Moslembrüder ziemlich negativ. Sie haben sich bislang nur für die Macht interessiert. Aber eines ist den Moslembrüdern gelungen: Das Volk hat eine gewisse Aversion gegen den Islam entdeckt. Der totalitäre Machtanspruch der Moslembrüder hat das Volk auf die Palme gebracht. Aber das Militär ist auch nicht ganz unschuldig, weder am Gerichtsurteil (gegen die Söhne Mubaraks) noch an der Entscheidung des Verfassungsgerichts. Die alte Garde ist noch da, sämtliche Geheimdienste und Polizeikader. Und sie sind mächtig. Es sind zwei Mächte, die gegeneinander konkurrieren. Das Militär mit seinem Kandidaten Ahmed Schafik und die Islamisten mit ihren Gönnern in der Golfregion und in den USA.

Es scheint ja so, dass jede Seite nur das eigene Machtinteresse im Blick hat. Was wird dann aus dem demokratischen Prozess in Ägypten?

Ich fürchte, dass es zu Unruhen kommen wird. Diese werden weder zugunsten des Militärs noch zugunsten der Moslembrüder ausgehen. Ich vermute, dass sich irgendwelche Persönlichkeiten mit irgendwelchen Programmen herauskristallisieren und wahrscheinlich an die Macht kommen werden. Und dann möglicherweise zu einem Konsens kommen. Aber die Wahlen von Samstag und Sonntag (Stichwahl um das Präsidentenamt am 16. und 17.6.2012/Anm. d. Red.) werden keine Lösung bringen. Egal, wer als Sieger hervorgeht.

Könnte man das jetzt als den entscheidenden Moment zwischen der Fortsetzung der Revolution oder des Arabischen Frühlings und einer Konterrevolution bezeichnen?

Die Revolution geht weiter, aber die Konterrevolution ist von Anfang an dabei gewesen. Man hat das nur nicht so bezeichnet. Revolution und Gegenrevolution haben sich verschiedener Methoden bedient und schließlich unterschiedliche Formen angenommen. Sie arbeiten nebeneinander und gegeneinander, seit Beginn der Revolution bis heute. Ich fürchte, es wird so weitergehen, wahrscheinlich monatelang.

Welche Rolle spielt der Westen in dieser politischen Gemengelage?

Eine negative. Der Westen hat sich auf die Seite der Moslembrüderschaft, der Islamisten, gestellt - nach dem Motto: Gut, dann sollen sie es versuchen. Aber das ist Gift, das Volk macht nicht mit. Das Volk ist dabei, sich zu fragen, was ist das für ein Westen? Der Westen will Demokratie und lässt Totalitaristen an die Macht kommen, beschützt und unterstützt sie. Das verstehen die Menschen nicht. Das ist die Realität.

Wer wird denn bei der Stichwahl als Sieger hervorgehen?

Wahrscheinlich Herr Mursi.

Hamadi El-Aouni ist Politikwissenschaftler und stammt aus Tunesien. Er lehrt an der Freien Universität Berlin im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften mit den Schwerpunkten Umwälzungen in der arabischen Gesellschaft und den politischen Systemen sowie Internationale Beziehungen.