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Island geht nicht ohne Sagas

13. September 2011

Noch heute identifizieren sich die Isländer mit den Saga-Helden als wären sie enge Verwandte. Sind sie ja irgendwie auch, diese isländischen Vorfahren aus dem 9. und 10. Jahrhundert. Nicht alle waren Sympathieträger.

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Isländische Landschaft in der Nähe von Reykjavik, geprägt von Lavagestein, geothermischen Quellen und Gletscherflüssen (Foto: DW)
Bild: DW/Nadine Wojcik

Arthúr Björgvin Bollason arbeitete als Nachrichtenkorrespondent des isländischen Fernsehens in Deutschland und als Fernsehmoderator in Island, bevor er Ende der 1990er Jahre die Leitung des Saga-Zentrums an der Südküste Islands übernahm. Er hat zahlreiche Bücher aus dem Deutschen ins Isländische übersetzt und selbst etliche geschrieben. Er lebt heute in Frankfurt und wirkt am Gastlandauftritt Islands auf der Frankfurter Buchmesse mit. Gabriela Schaaf traf ihn am Rande einer Pressekonferenz.

DW-WORLD.DE: "Das ganze Land bebt vor literarischen Überlieferungen", hat Ihr Nobelpreisträger Halldór Laxness mal gesagt. Welche Bedeutung haben die Sagas denn im Alltag der Isländer, im täglichen Leben?

Arthúr Björgvin Bollason: Bis zum heutigen Tag und eigentlich seitdem sie verfasst worden sind, im 13. Jahrhundert, haben sie für das Alltagsleben der Menschen in Island eine sehr große Bedeutung gehabt. In vergangenen Zeiten, als Island aus einen Bauernvolk bestand, das verstreut über die ganze Insel gelebt hat, in Torfhütten, unter ziemlich ärmlichen Bedingungen, haben die Sagas dazu beigetragen, dass das Leben dieser Menschen leichter wurde. Das sie etwas mehr Freude am Leben hatten, weil das Erzählen als eine Art Glücklichmachen, als eine Art Unterhaltung immer sehr hoch geschrieben wurde. Es gab nicht viel Unterhaltung in den Zeiten damals.

Heute spielen die Sagas im Alltag insofern eine Rolle, dass viele Sprüche aus ihnen überliefert und in die Alltagssprache eingegangen sind. Es gibt viele Redewendungen, die man tagtäglich hört. Und wenn die Isländer zusammenkommen und fröhlich werden, manchmal auch feuchtfröhlich, dann sind die Sagas oft ein Gesprächsthema. Manche Leute haben ihren Lieblingshelden. Man redet gerne über diese Menschen, weil sie uns heute noch sehr nahe stehen, weil sie vor 700 Jahren so wunderbar lebhaft dargestellt wurden.

Für jeden einen Geistesverwandten

Geben Sie doch mal ein Beispiel. Welcher Held steht denn den Menschen heute besonders nahe und warum?

Ich hatte einen Isländisch-Lehrer auf dem Gymnasium, der machte uns von Anfang an klar, dass für ihn nur ein Held in den Sagas ein richtiger Held sei, und das sei Egill Skallagrímsson. Der sei nicht nur ein hervorragender Dichter und ein Kämpfer gewesen, der niemanden etwas geschuldet hat auf diesem Gebiet, sondern zugleich auch ein großer Unternehmer. Er sei ins Ausland gegangen und habe dort große Unternehmungen und Heldentaten vollbracht. Und er sagte: "Wer so viele Charaktereigenschaften und Fähigkeiten in sich vereinigt, das ist mein Mann." Allerdings war Egill manchmal ein richtiger Kotzbrocken. Darauf durften wir unseren Lehrer wiederum nicht ansprechen...

Aber es gibt auch andere Helden, die mehr was für Softies und weiche Charaktere sind. Die mögen zum Beispiel Gunnar von Hlíðarendi, den Helden der Njáls-Saga. Er konnte gut mit den Frauen, war auch eine Lichtgestalt. Man kann also, je nachdem, was für ein Charakter man ist, und je nachdem, welche Interesse man hat, immer wieder seinen Geistesverwandten in den Sagas finden.

Haben die Sagas heute noch etwas mit Identitätsbildung zu tun - um dieses hochtrabende Wort zu benutzen - für Isländer?

Ich erinnere mich daran, dass unser heutiger Präsident vor Jahren in einem Interview gesagt hat, auf die Sagas angesprochen: "Sie haben uns zu einem Volk gemacht." Sie sind sozusagen die Grundlage unserer Identität, unserer nationalen Identität. Ich bin sicher, dass viele Historiker der jüngeren Generation das nicht unbedingt so unterschreiben würden, dass die Sagas das Einzige sind, was unsere Identität ausmacht. Aber sie haben sicherlich eine ganz wichtige Funktion für das nationale Gefühl der Isländer.

Aber darüber hinaus sind sie auch international bekannt, weil sie in andere Literaturen eingegangen sind. Die Sagas selbst kennt man eher nicht..

Ja, sie sind im Grunde als Sagas deswegen so wenig bekannt in der Welt, weil sie so spät übersetzt worden sind. Aber es gab Menschen wie zum Beispiel Walter Scott, den Autor der ersten historischen Romane. Der hat eine der Sagas gekannt, die Eyrbyggja-Saga, und ist sehr stark von ihr beeinflusst worden. Es gibt einen anderen weltbekannten Autor viel später, Ernest Hemingway. Der soll auch von den Sagas begeistert gewesen sein. Und Borges natürlich, ein großer Saga-Fan.

Erst sperrig, dann flüssig dank Neuübersetzung

Die Sagas wurden spät übersetzt, man hat im 19., angehenden 20. Jahrhundert angefangen, sie ins Englische zu übersetzen. Es gab bei Penguin Classics vor etwa 15 Jahren im Grunde die erste größere Ausgabe. Und im deutschen Sprachbereich waren sie fast unbekannt bis auf die sogenannte Thule-Ausgabe, die vom Dietrich-Verlag ab 1911 bis zum Ende der dreißiger, Anfang vierziger Jahre gemacht wurde.


Ein Team von 15 Übersetzern hat die Isländer-Sagas jetzt zum ersten Mal in deutscher Übersetzung im S. Fischer Verlag herausgegeben. Diese Neuübersetzung ist Teil eines der größten Übersetzungsprojekte weltweit. Sie haben es aber gerade schon angedeutet, es hat ja schon deutsche Übersetzungen gegeben, die alten Nazi-Übersetzungen. Warum ist eine Neuübersetzung nötig?

Sie sind einfach sprachlich überholt. Sie wurden, und das ist vielleicht sehr wichtig, ausnahmslos von Philologen übersetzt. Nun hat man nichts gegen Philologen oder Altnordisten, aber sie haben häufig - was ihrem Fach entspricht - mehr darauf geachtet, dass die Texte korrekt übersetzt werden und so nahe am Original wie möglich. Und das war nicht unbedingt leserlich. Ich erinnere mich daran, dass Hans Magnus Enzensberger mal bei uns in Island auf einem Literaturfestival war. Er hat zu mir gesagt: "Es ist ja grauenvoll. Ich versuche immer wieder, diese Geschichten zu lesen, aber die sind so schrecklich, der Text ist so schrecklich, dass ich gar nicht weiter komme." Um dem Abhilfe zu leisten, sind diese neuen Übersetzungen gemacht worden.

Leben zwischen Saga und Realität

Da saß ein ganz frisches Team von Übersetzern dran, ziemlich junge Übersetzer zum Teil, die auch moderne Literatur übersetzt haben. Und auch wenn die Herausgeber Philologen sind, die sozusagen abchecken, dass alles mit rechten Dingen zugeht, so sind die meisten Übersetzer, keine Philologen, sondern literarisch begabte Leute, die dafür Sorgen wollen, dass die Texte gut lesbar werden. Das ist sehr, sehr wichtig.

Was ist Ihre Lieblings-Saga?

Da kann ich natürlich nur sagen, die Njáls-Saga. Aus einem ganz einfachen Grunde: Ich hatte das Vergnügen, vier Jahre lang das Njáls-Saga-Zentrum zu leiten. Vier Jahre lang war es mein Hauptberuf, meine Landsleute zu den Schauplätzen der Njáls-Saga zu führen. Und das ist die größte Saga. Sie nimmt ein Drittel der gesamten Isländer-Sagas ein, es sind insgesamt 40. Und die kenne ich einfach. Ich habe sozusagen in dem Buch gelebt vier Jahre lang und bin natürlich mit jedem da bestens vertraut. Manchmal hatte ich Probleme zu unterscheiden, wenn die Rede von einem Gunnar war, ob das nun Gunnar von Hlíðarendi war, der im 10. Jahrhundert in der Nachbarschaft lebte, oder mein Freund Gunnar, der heute da wohnt. Ich bin sehr stark mit diesen Leuten in Berührung gekommen, auf eine ganz besondere Art. Und deswegen mag ich die Njáls-Saga natürlich mehr als alle anderen Sagas.

Irgendwie sind wahrscheinlich alle Isländer auch noch mit den Saga-Helden verwandt?

Das sowieso. Es wird ja immer wieder betont: Wenn man die Zahl der Isländer nimmt, die bis jetzt auf der Welt gelebt haben, dann kommen wir noch nicht mal auf eine Million. Und es liegt auf der Hand, dass bei so einem kleinen Volk von knapp einer Million seit nur 1100 Jahren viele Verwandtschaften vorhanden sind.

Das Gespräch führte Gabriela Schaaf

Redaktion: Marlis Schaum