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"Ist Gott eine Flasche?"

Stephan Hille4. November 2003

Es scheint absurd und blasphemisch - doch Russland betet eine Flasche an: die Wodkaflasche. Deren Inhalt, das "Wässerchen", wird angeblich in diesem Jahr 500 Jahre alt. Stephan Hille berichtet von einer Nation im Suff.

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Wann und wo genau der erste Wodka gebrannt wurde, weiß niemand so richtig. Aber Zeit wie auch Entfernungen haben im riesigen Russland noch nie eine entscheidende Rolle gespielt. Um so wichtiger waren aber immer die Schriftsteller. Einer von ihnen, Viktor Jerofejew, hat aus Anlass des 500. Jubiläums in einem hymnischen Trinkspruch angemerkt: "Der Wodka gibt und der Wodka nimmt. Viel mächtiger als jedes politische System hält uns der Wodka wie Geiseln. Kurz: Der Wodka ist der einzige und wahre russische Gott." Für diese Feststellung muss sich allein Jerofejew verantworten, doch in der Sache hat er sicher Recht.

Nationales Gesöff

Seit Iwan dem Schrecklichen trugen Alkohol- und Verbrauchsteuer wesentlich zum Aufbau und Unterhalt der Armee bei. Dies galt auch unter den Kommunisten. Doch die "Frontnorm" von täglich 100 Gramm erhöhte nicht nur die Moral der Truppe im Zweiten Weltkrieg, sondern verstärkte auch die Alkoholabhängigkeit. Vermutlich werden annähernd viele Kinder im Suff gezeugt, wie Menschen durch den Wodka ihr Leben verlieren: durch Gelage, Unfälle oder durch im Rausch verübten Totschlag. Allein 2002 starben nach offizieller Statistik 41.000 Russen an Alkoholmissbrauch oder Vergiftung.

Verbotenes Gesöff

Michail Gorbatschow, der letzte KP-Generalsekretär, versuchte vergeblich, kurz nach seinem Machtantritt das Sowjetvolk aus der Trunkenheit zu führen. Unter der Gorbatschowschen Anti-Alkohol-Kampagne wurde nicht nur der Wodkakonsum drastisch eingeschränkt, sondern sogar ganze Weinberge dem Erdboden gleich gemacht. Die Werktätigen soffen daraufhin Parfüm oder Brennspiritus und gaben Gorbatschow den Spitznamen "Mineralsekretär". Neben der Popularität des Kremlherrschers litt vor allem der Haushalt, und so musste Gorbatschow dem Volk das wiedergeben, was es so sehnlichst verlangte: Wodka. Doch mit dem Ende der Sowjetunion brach auch das staatliche Wodkamonopol weg.

Mystisches Gesöff

Unter Präsident Putin ist der Kreml wieder dabei, seine besten Wodkamarken zurück zu erobern. Warum aber der Wodka, eigentlich ein scharfes Zeug, ohne Farbe und Geschmack, den Russen so wichtig ist, bleibt wohl so geheimnisvoll wie die vielbeschworene russische Seele. Allein bei der Erwähnung des Wortes "Wodka" könne kein einziger Russe gleichgültig bleiben, notierte Jerofejew und sein früh verstorbener Namensvetter Wenedikt Jerofejew meißelte dem Nationalgetränk mit seiner Reisebeschreibung "Die Reise nach Petuschki" nicht nur ein literarisches Denkmal, sondern legte überhaupt die hochprozentigste Sauftour der Weltliteratur hin.

Doch die Mystik des durchsichtigen Getränks geht noch weiter. Das Jahr 2003 scheint als Jubiläumsjahr willkürlich festgelegt worden sein, denn nirgends findet sich ein konkretes Datum, geschweige denn eine Jahreszahl für den ersten gebrannten Wodka. Wichtig ist den Russen lediglich, dass ihr Wodka älter ist als der polnische. Abschließend lässt sich eigentlich nur eines sicher feststellen: Seit in Russland das "Wässerchen" gebrannt wird, haben es die Russen nicht geschafft, damit umzugehen. Prost!