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Jechanurows Scheitern im ersten Wahlgang

22. September 2005

Am 20. September hatte das Parlament der Ukraine den von Präsident Juschtschenko vorgeschlagenen Premierminister-Kandidaten Jechanurow abgelehnt. Politiker und Experten äußern sich bei DW-RADIO zu den Hintergründen.

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Der Oberste Rat der UkraineBild: dpa

Am Dienstag (20.9.) erhielt der von Präsident Wiktor Juschtschenko vorgeschlagene Kandidat für das Amt des Premierministers, Jurij Jechanurow, 223 Abgeordnetenstimmen - notwendig gewesen wären mindestens 226. Beobachter werten dies als eine schwere Niederlage des Staatsoberhaupts, weil die Kandidatur Jechanurows, eines Ökonomen ohne politische Ambitionen, allen entgegenkommen sollte.

Möglichkeit zur Einigung versäumt?

Ukrainische Experten sind sich darin einig, dass Jechanurow abgelehnt wurde, weil die Staatsmacht nicht bereit war, die Haltung der Opposition zu berücksichtigen. Die Verhandlungen mit den Fraktionen und das politische Management seien ineffektiv gewesen. Dass die Fraktionen der Kommunisten und der Vereinigten Sozialdemokratischen Partei sich an den Verhandlungen nicht beteiligten und Jechanurow keine einzige Stimme gaben, war vorauszusehen. Vom Block Julija Tymoschenko, der mit der Entlassung von Julija Tymoschenko vom Amt der Regierungschefin nicht einverstanden ist, kam nur eine Stimme für Jechanurow. Mit der Fraktion der Partei der Regionen, die bis zuletzt unentschlossen war, hätte man sich nach Ansicht von Politologen einigen können.

"Verständigung mit Gegnern notwendig"

Dem Direktor des Kiewer Zentrums für Politik- und Konfliktforschung, Mychajlo Pohrebinskyj, zufolge verlängerte die Abstimmung die politische Krise. Seiner Meinung nach müsse der Präsident seine Fehler einsehen. Nur dies werde aus der Krise führen. Juschtschenko müsse verstehen, dass er nur von einem Teil der Bevölkerung gewählt worden sei. Der Politologe sagte der Deutschen Welle: "Juschtschenko soll von Einigkeit nicht nur reden, sondern konkrete Maßnahmen zur Verständigung mit seinen ehemaligen Gegnern unternehmen. Er muss ein professionelles Team aufstellen. Ein politisches Management, dass sich auf einen engen Kreis beschränkt, ist zum Scheitern verurteilt."

Koalitionsregierung gefordert

Optimistischer bewertet das Abstimmungsergebnis vom 20. September der ehemalige Präsident der Ukraine und heutige Führer der Vereinigten Sozialdemokratischen Partei, Leonid Krawtschuk. Seine Partei habe Jechanurow nicht unterstützt, weil sie eine Koalitionsregierung wolle. Krawtschuk sagte der Deutschen Welle, seine Fraktion wolle nicht die Verantwortung für eine Kandidatur tragen, auf die sie keinen Einfluss ausübe. Er betonte: "Wenn der Präsident gesunden Menschenverstand walten lässt, dann wird er einsehen, dass wir hier keine persönlichen Ziele verfolgen. Wir wollen in der Ukraine eine Regierung haben, die im Parlament nicht nur von einem gewissen Teil unterstützt wird, sondern Unterstützung genießt, weil sie verschiedene politische Kräfte vertritt. Wenn die Regierung im Parlament breitere Unterstützung finden wird, dann werden ihre Vorschläge und Gesetzentwürfe von den Abgeordneten entsprechend angenommen werden. Wenn der Präsident sich aber nur nach einer politischen Kraft richten wird, dann wird die Kraft nicht ausreichen, um eine Regierung zu bilden. Es ist dann auch unrealistisch, von einem Staatsetat und allem anderen zu sprechen."

"Regierungskrise ist Rückschlag"

Die Ereignisse in Kiew verfolgen auch deutsche Politiker aufmerksam. Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag, Gernot Erler, sagte der Deutschen Welle: "Auf der einen Seite sind wir natürlich besorgt über die Entwicklung, weil wir gehofft hatten, dass Präsident Juschtschenko eine Phase von Stabilität in der Ukraine einleitet und natürlich möglichst gute Voraussetzungen schafft, um im nächsten Frühjahr weiterhin erfolgreich zu sein. Insofern sehen wir das auch als einen Rückschlag an, dass jetzt hier diese Regierungskrise entstanden ist. Wir wünschen uns, dass das trotzdem in eine stabile Entwicklung mündet. Auf der anderen Seite kommt es auch nicht so ganz überraschend, weil wir natürlich naiv wären, wenn wir geglaubt hätten, dass alleine durch die orange Revolution die ganzen strukturellen Probleme, auch alles das, was mit Korruption und mit Verbindung von Politik und Wirtschaft zu tun hat, schon ausgeräumt wäre. Das war nicht zu erwarten. Insofern sind wir realistisch und wünschen viel Glück, dass das zu einer guten Entwicklung führt."

"Wir befinden uns schon im Wahlkampf"

Der Osteuropa-Experte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, Rainer Linder, meint, mit der Ablehnung der Kandidatur Jechanurows am 20. September sei Präsident Juschtschenko im Zusammenhang mit dem beginnenden Wahlkampf herausgefordert worden. Lindner sagte der Deutschen Welle: "Wir beobachten die Konstitution einer Oppositionsgruppierung mit der Spitzenperson Julija Tymoschenko, die in den letzten Tagen doch sehr deutlich von Juschtschenko abgerückt ist. Im Grunde befinden wir uns schon im Wahlkampf für die kommende Parlamentswahl, aus der Tymoschenko nach Lage der Dinge heute aller Wahrscheinlichkeit nach als sehr starke Kraft im Parlament hervorgehen wird und auch Ansprüche auf weitere höhere Ämter im Staat damit geltend machen wird."

Natalja Dudko, Wolodymyr Medyany
DW-RADIO/Ukrainisch, 20.9.2005, Fokus Ost-Südost