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Jeder Tag ist kostbar

6. Dezember 2014

Leben nach der Krebsbehandlung. Alles hat sich geändert: das Aussehen, die Einstellung zum Leben. Es gibt aber neue Hoffnungen auf Menschen und auf Gott. Marianne Ludwig erzählt davon für die evangelische Kirche.

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Bild: picture-alliance/dpa/R. Jensen

„Ich liege und schlafe ganz in Frieden, denn allein Du Herr, hilfst mir, dass ich sicher wohne.“ Wenn sie diese Worte aus dem 4. Psalm hört, bekommt sie eine Gänsehaut. Es hat lange gedauert, bis sie wieder in Frieden schlafen konnte. Zu Beginn ihrer Krebserkrankung kam sie Tag und Nacht nicht zur Ruhe. Tausend Gedanken kreisten im Kopf. Was sollte werden? Dabei war sie es eigentlich gewohnt, die Dinge ohne Umschweife anzupacken. In den folgenden Monaten nahm der Kampf gegen den Tumor in ihrer Brust ihre ganze Kraft in Anspruch. Psychisch und physisch. Nachts wachte sie manchmal auf und wunderte sich über ihre ungewohnte Körperhaltung: Im Schlaf hatte sie die Arme vor der Brust überkreuzt und hielt sich sozusagen selbst umarmt.

Während der Chemotherapie konnte sie kaum etwas essen und nahm sechs Kilo ab. Bald wurde sie zum Glatzköpfchen. Aber das machte ihr nicht so viel aus, wie anfangs befürchtet. Ihr Kopftuch trug sie als Schmuck. Wenn sie es abnahm und sich im Spiegel betrachtete, erschien ihr Körper mit scharfen Umrissen. Alles Schmeichelnde hatte der Tumor gefordert, geblieben war sozusagen der nackte Wesenskern. Aber was sollte daran schlimm sein? Es war eher ungewohnt und fremd, aber kein zu hoher Preis, wenn sie den Tumor damit verjagen konnte.

Manchmal bekam sie sogar unerwartete Komplimente. „Was hast Du für einen schönen Hinterkopf“, sagte ihr eine Freundin. Das hatte sie gar nicht gewusst. Sie hätte sich auch nie träumen lassen, wie viele Menschen ihre Hilfe anboten und einfach da waren. Die harten Männer, mit denen sie sich im Beruf auseinander setzen musste, wurden auf einmal ganz weich und fürsorglich. Tag für Tag stand jemand vor der Tür und schaute nach ihr. Oder ging mit ihr spazieren, weil die frische Luft ihr gut tat und sie allein zu unsicher war.

Ähnlich ging es ihr mit ihren Mitpatientinnen, die sie im Chemoraum der Arztpraxis traf. Während der vielen Stunden, in denen sie ihre Infusionen bekamen, wuchs die Schicksalsgemeinschaft der „Chemikerinnen“. Mit Humor und guten Tipps standen sie sich gegenseitig bei im Kampf gegen ihre „Untermieter“. Manchmal fielen sogar Witze wie: „Schwarzer Humor ist, wenn Du vom Krebs geheilt, von der Chemo geschwächt und an einem Schnupfen gestorben bist.“ Die ganze Runde hatte gekichert.

Was Körper und Seele alles aushalten, wenn das Leben auf dem Spiel steht! Gut, dass ihr Arzt sie behutsam und deutlich auf alles vorbereitet hatte. Wie früher als Kind war sie jetzt angewiesen auf andere. Auf andere – und auf Gott. „Du allein, Herr, hilfst mir, dass ich sicher wohne“ Psalmverse wie dieser nährten ihre Hoffnung, ihren Untermieter zum Teufel zu jagen. Hoffentlich auf Nimmerwiedersehen. Seit ein paar Tagen zeigt sich wieder der erste Haarflaum auf ihrem Kopf. Fein, weich – und ganz weiß. Die neue Farbe gefällt ihr. Weiß – das ist wie ein neuer Anfang. Ein neuer Start in ihr Leben ohne Tumor.

Der Blick in den Spiegel zeigt nun nicht mehr das vertraut gewordene Glatzköpfchen, aber auch nicht die robuste und selbstbewusste Frau von früher. Ihr neues Ich wirkt wie nach einer Häutung, zart, weich, empfindsam. Und gleichzeitig entschlossen. Denn der Kampf gegen den Krebs ist noch nicht vorbei. Regelmäßig wird sie zur Kontrolle gehen müssen und jedes Mal wird die Anspannung steigen. Aber die Verunsicherung soll nicht den Ton angeben in ihrem neuen Leben. Jeder Tag wäre zu schade dafür. Denn eines weiß sie ganz sicher. Was auch immer die Zukunft bringt: Sie ist in guten Händen. Bei Menschen wie ihrem Arzt, ihren Freundinnen, den Kollegen – und bei Gott.

Pfarrerin Marianne Ludwig, Berlin
Pfarrerin Marianne Ludwig, BerlinBild: EDK

Zur Autorin:

Marianne Ludwig (Jahrgang 1958) ist seit Februar 2007 Pfarrerin bei der Bundespolizei mit Dienstsitz in der Bundespolizeiabteilung Blumberg. Sie wurde in Bad Berleburg (Nordrhein-Westfalen) geboren und studierte ev. Theologie und Judaistik in Berlin, Göttingen und Jerusalem. Sie wurde nach dem Vikariat 1989 ordiniert und arbeitet seither überwiegend in der Spezialseelsorge (Ev. Familienbildungsstätte, Kinderklinik, allgem. Krankenhaus). Sie hat derzeit einen Predigtauftrag in der JVA Tegel/Berlin. Marianne Ludwig ist verheiratet und hat drei Kinder.

Verantwortlicher Redakteur: Pfarrer Christian Engels