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Jetzt beginnt der europäische Rosenkrieg

Thomas Straubhaar
29. März 2017

Die anstehenden Verhandlungen zum EU-Austritt Großbritanniens sind eine Herkulesaufgabe ohne Erfolgsgarantie. Die Wahrscheinlichkeit eines Exit vom Brexit steigt. Ein Gastbeitrag von Thomas Straubhaar.

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Liebeskummer Herz aus Eis
Bild: picture-alliance/dpa/L. P. Sakki

Nun ist endlich geschehen, was lange schon angekündigt war. Die britische Premierministerin Theresa May hat dem Europäischen Rat offiziell den Brexit, den Austritt ihres Landes aus der EU, verkündet. Nichts ist so falsch wie diese Erwartung! Ein Brexit ist noch in weiter Ferne. Und es ist alles andere als sicher, dass es dazu kommen wird.

Richtig ist, dass die Briten einen Brief nach Brüssel gebracht haben. Darin steht, dass das Vereinigte Königreich die Absicht hat, die EU zu verlassen. Nichts mehr, nichts weniger. Weder kann noch will Theresa May jetzt bereits den Austritt vollziehen. Das wäre weder politisch sinnvoll noch juristisch rechtens. Dafür sorgt klipp und klar das europäische Scheidungsrecht des Artikels 50 des EU-Vertrags.

Eine Frage der Zeit

Denn vor dem Brexit müssen nun erst "die Einzelheiten des Austritts" ausgehandelt werden, "wobei der Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Staates zur Union berücksichtigt wird." So klar steht es im EU-Vertrag. Deshalb liegen beim Brexit zwischen Absicht und Tat Welten. Genau genommen zwei Jahre. Denn so lange bietet der EU-Vertrag EU und Großbritannien Zeit, ein Prozedere für eine einvernehmliche Trennung zu finden.

Noch präziser analysiert, könnten sich die Verhandlungen aber auch viel länger hinschleppen. Sollte die Zeit bis Ende März 2019 nämlich nicht reichen, ist jederzeit und auf unbegrenzte Dauer möglich, dass "der Europäische Rat im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat einstimmig beschließt, diese Frist zu verlängern" - so Artikel 50, Absatz 3. Entgegen aller Äußerungen ist also rechtlich eigentlich überhaupt keine Eile geboten. Es gibt keine unveränderbar festgeschriebene Zeitguillotine, die nach zwei Jahren die Scheidung exekutiert. Das macht an sich auch viel Sinn. Denn über 20.000 Sachverhalte müssen nun neu geregelt werden. Und zwar in den nächsten anderthalb Jahren, so dass noch genügend Zeit bleibt, damit das Verhandlungsergebnis von beiden Parteien ratifiziert werden kann.

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Thomas StraubhaarBild: picture-alliance /dpa/J. Kalaene

Harter Brexit "vollkommen o.k."?

Ob es allerdings in der Praxis zu einer Verlängerung der Verhandlungen kommen wird, hängt vom guten Willen aller Beteiligten ab. Denn hierfür bedarf es der Einstimmigkeit. Ist auch nur eines der 28 EU-Mitgliedländer dagegen, fliegt Großbritannien Ende März 2019 aus der EU. Und zwar - und das ist das Entscheidende – "ungeregelt", also ohne ein gegenseitig abgestimmtes und vereinbartes Abkommen, ohne völkerrechtlich verbindliche Regeln für das Trennungsverfahren und seine Konsequenzen für Freihandel, Migration, Direktinvestitionen, Finanz- und Kapitalmarktregulierungen, Handelsvereinbarungen mit Drittstaaten und vieles mehr.

Ist es vollmundig, trotzig schmollend oder realitätsverweigernd, wenn der britische Außenminister Boris Johnson ein Ausscheiden ohne Abkommen für "vollkommen o. k." hält? Ist nicht eher ein Chaos zu erwarten, wenn Großbritannien in nahezu allen realwirtschaftlichen Bereichen ohne gültige bilaterale Verträge gegenüber der EU aber auch gegenüber allen nicht-EU-Ländern, insbesondere den USA dastehen würde?

Denn überall dort, wo wirtschaftspolitisch die EU zuständig ist, und das ist vor allem beim Handel mit Gütern und Dienstleistungen sowie beim Wettbewerbsrecht der Fall, gibt es keine nationalen Verträge Großbritanniens mit anderen Ländern mehr. Das Vereinigte Königreich müsste in langwierigen Neuverhandlungen mit der EU, den USA und allen anderen Staaten bilaterale Abkommen vereinbaren, um alle Fragen von Belang neu regeln zu können.

Asymetrische Verhandlungspositionen

Richtig ist somit auch, dass ab sofort die Uhr zu ticken beginnt. Und zwar gegen die Briten. Denn das Vereinigte Königreich, nicht die EU steht nun unter Druck. Die Briten müssen einvernehmlich vernünftige wirtschaftspolitische Trennungslösungen mit der EU vereinbaren, sonst fallen sie handelspolitisch ins Nirvana. Und weil die Abhängigkeit der Briten gegenüber dem Wohlwollen der EU so offensichtlich ist, wird die EU gegenüber dem Vereinigten Königreich den "brutalstmöglichen" Verhandlungskurs fahren. Gemäßigte Stimmen werden von den Hardlinern übertönt werden, die sehr wohl die schwache britische Verhandlungsposition zu eigenen Gunsten ausnutzen wollen. Und sei es nur, um in populistischer Weise zu Hause politisch punkten zu können.

Damit ist erkennbar, dass die Verhandlungspositionen sehr asymmetrisch sein werden. Ein britisches "Ausscheiden ohne Abkommen" wäre für Europa ökonomisch eine Bagatelle, verglichen zu den Folgekosten für Großbritannien. Deshalb kann die EU relativ gelassen maximale Forderungen stellen. Die Briten hingegen werden harte Forderungen stellen, sich jedoch mit weichen Ergebnissen zufriedengeben müssen.

Ein Scheitern der Verhandlungen wäre für Großbritannien der schlechteste Fall. Es würde eine sich ohnehin abzeichnende Implosion des Vereinigten Königreichs beschleunigen. Die Schotten und die Nordiren dürften dann noch rascher nach nationaler Unabhängigkeit von England streben, um damit ihre Zugehörigkeit zur EU zu retten. Es wäre das Ende des Vereinigten Königreichs, das einmal ein Imperium war, ökonomisch aber bereits lange seine Vormachtstellung verloren hatte.

"Br-re-exit" als Plan B?

Spätestens an der Stelle muss erneut auf die Möglichkeit eines "Plan B" hingewiesen werden. Sollte sich nämlich während der nun beginnenden Verhandlungen ein für die Briten ungewolltes, unerfreuliches Ergebnis abzeichnen, kann Großbritannien jederzeit einseitig seine Austrittsabsicht zurückziehen! Ruft Theresa May "April, April", bleibt alles, wie es heute ist, als hätte es nie die Absicht eines Brexit gegeben. Großbritannien bliebe dann - wie es heute der Fall ist - vollwertiges gleichberechtigtes EU-Mitglied. Der angedrohte Scheidungsprozess wäre nichts mehr als ein schlechter Traum, eine Posse gewesen.

In der rechtswissenschaftlichen Literatur ist umstritten, ob die Briten tatsächlich ihre Austrittsabsicht zurücknehmen können. Der Spiritus Rector des Austrittsverfahrens, der britische Lord Kerr of Kinlochard, hat dazu eine glasklare Meinung: "Theoretisch spricht nichts dagegen, dass der Artikel 50, auch wenn einmal auf ihn Bezug genommen worden ist, auch wieder zurückgezogen werden kann. Die Anwälte sagten mir damals, als ich ihn geschrieben hatte: Wenn eine Regel etwas nicht verbietet, bedeutet das, es ist erlaubt." Zustimmung, dass den Briten die Hintertür des Rückzugs jederzeit weit offen steht, signalisiert auch eine durch die Unterabteilung Europa des Deutschen Bundestags verfasste rechtliche "Ausarbeitung". Sie kommt zum Ergebnis, "dass die überwiegenden Argumente für die Möglichkeit einer Rücknahme der Mitteilung sprechen".

Auch wenn die Briten verständlicherweise "Plan B" als geheime Kommandosache behandeln, ist der "Br-re-exit" ein ernst zu nehmendes Szenario, das mit jeder Verhandlungswoche an Wahrscheinlichkeit gewinnen dürfte. Ein Widerruf der Absicht, die EU verlassen zu wollen, würde Großbritannien erlauben, gesichtswahrend, der Vernunft folgend, den wirtschaftlichen Schaden zu begrenzen, der sich mit einem EU-Austritt ergibt. Ein Brexit mit einem Abkommen voller Zugeständnisse an die EU wäre teurer, ein "ungeregelter" Austritt ohne Abkommen wäre eine ökonomische Katastrophe. Und zwar weniger für Europa, sondern vor allem für das Vereinigte Königreich selber.

Thomas Straubhaar ist ein Schweizer Ökonom. Er war bis Ende August 2014 Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI). Er lehrt heute Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Universität Hamburg.