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Jetzt ist es vorbei

Marcus Bösch23. September 2002

Ein nasskalter Herbst ohne schöne Geschichten. Mit der Finanzkrise deutscher Zeitungsverlage scheint auch das Ende journalistischer Experimente gekommen: Kein Pop, kein Negligé, kein Fruchtjoghurt ...

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25 Gründe, warum es sich heute zu leben lohntBild: Jetzt

Früher war einiges besser. Am besten war es bis 1996, denn es gab das Magazin Tempo und Autoren wie Marc Fischer. Der kletterte beim Interview mit der Popdiva Björk kurzerhand aufs Hoteldach oder ließ sich von Topmodel Kate Moss unauffällig in die Hotellobby schmuggeln. Die letzte Ausgabe der Tempo, fertig geschrieben und produziert, verblieb allerdings ungedruckt auf den Redaktionsrechnern. Nicht genug Leser schienen sich für Geschichten über Fruchtjoghurts oder Skateboardkids zu interessieren.

Lässig lümmeln

Gut war es auch noch 1998. Schließlich gab es das Zeit-Magazin. Autor Jörg Burger erkundigte sich im Interview mit der damaligen Kanzlergattin "Frau Cool" nach den Rezepten "fleischiger, schwerer Kost" und schrieb ansonsten lieber von Käseherstellern, Shampoofabrikanten oder noch lieber von sich selber. Auf Seite Sieben tobten inzwischen Schriftsteller wie Maxim Biller ("100 Zeilen Hass") oder Sybille Berg ("ich lümmle lasziv in einem fleischfarbenen Negligé"). Die Ära des Zeit-Magazins endete nach knapp 30 Jahren. Zu unrentabel war die wöchentliche Beilage geworden. Die Nummer 1531 im Mai 1999 war die letzte Ausgabe.

Müde & desillusioniert

Jetzt ist alles noch schlimmer. Die größte Branchenkrise der Nachkriegszeit hat Deutschlands Zeitungsverlage erfasst. Die Auflagen der Zeitungen sinken, die Anzeigenaufträge schrumpfen, überall werden Mitarbeiter entlassen. Auch die "Woche der Zeitung" (21. bis 29.09.2002), eine Initiative vom Bundesverband der deutschen Zeitungsverleger, wird daran nicht viel ändern.

Gekürzt wurden und werden zunächst die "Liebhaberprojekte": Features die man haben kann, aber nicht muss. Auch die Berlin-Seiten von FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung) und SZ (Süddeutsche Zeitung) und das erfolgreiche SZ-Jugendmagazin "jetzt" wurden auf Grund allgemeinen Geldmangels eingestellt. Da können Branchenkenner noch so lange von kurzsichtigen Entscheidungen sprechen.

Fehlen werden nun Geschichten über selbstaufgenommene Kassetten, Rudolf Scharping oder Cheeseburger. Fehlen werden sie an Bushaltestellen, auf Küchentischen und neben Lieblingssesseln. "Ich bin müde und desillusioniert", sagt Christian Seidl, letzter "jetzt"-Redaktionsleiter. 10.000 Unterschriften haben "jetzt"-Anhänger gesammelt, für den Weitererhalt des Magazins demonstriert und unzählige wütende Briefe geschrieben – vergebens. Demonstriert haben sie für Texte fröhlichen Unsinns, für die Zelebration des Normalen und Unspektakulären, für einen neuartigen Stil.

Jugendliche demonstrieren gegen Ende von "jetzt"-Magazin
Jugendliche demonstrieren am 20.7.2002 in München gegen die Einstellung des Jugendmagazins "jetzt"", das bisher montags der Süddeutschen Zeitung beigelegt war.Bild: DPA

New Journalism

Ein Stil, den eine handvoll junger amerikanischer Autoren bereits 1963 in New York prägten. Ein Stil, der deutschen "Popjournalisten" wie Moritz von Uslar und Christian Kracht als Orientierung diente. Stets sollte es um eine eigene Geschichte gehen, selbst erlebt und erzählt. Ohne strikte Trennung von Nachricht und Meinung und ohne anödende W-Fragen. Eine subjektive Darstellung eines Gefühls, eines Moments oder auch der Musikgruppe BAP.

Während sich der amerikanische Journalist und Autor Tom Wolfe ("Fegefeuer der Eitelkeiten") inzwischen längst dem fiktionalen Schreiben und seiner Sammlung von weißen Anzügen widmet, scheint auch das deutsche Genre "Popjournalismus" in Auflösung begriffen.

Tom Wolfe
Der amerikanische Schriftsteller und Bestsellerautor Tom Wolfe ("Fegefeuer der Eitelkeiten") ist am 15.6.2002 Gast bei der "Jazz at Jennings"-Benefizgala auf Long Island in New York.Bild: DPA

Zurückgezogen haben sich einst bejubelten Autoren: Benjamin von Stuckrad-Barre scheint in Zürich zu sein, Christian Kracht irgendwo in Asien, Marc Fischer wohl in Hamburg. Den Journalistenberuf hat manch einer an den Nagel gehängt. Kracht und Fischer schreiben inzwischen Romane. Genau wie Tom Wolfe. Da fragt auch niemand lästig nach, was vom Geschriebenen Realität oder Fiktion ist. Hauptsache die Geschichte ist gut.