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Die junge Avantgarde

Kay-Alexander Scholz5. Mai 2012

Es gehört in Deutschland unter Erwachsenen seit Generationen zum guten Ton, über die Jugend zu schimpfen. Derzeit aber lohnt ein differenzierter Blick, denn dann findet man eine Gruppe unter ihnen, die viel Lob verdient.

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Erhobene Finger von Schülern im Unterricht
Bild: Fotolia/Robert Kneschke

Zuständig für das wissenschaftliche Erfassen von sozialen Milieus und die sie verbindenden Wertvorstellungen sind gemeinhin Soziologen. In Deutschland ist dafür vor allem das Sinus-Institut bekannt, das alle fünf Jahre einen Überblick über die Milieuverteilung in Deutschland gibt. Vor kurzem erschien eine neue spezielle Sinus-Studie über Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren - es ist nach 2007 die zweite Studie dieser Art. Jugendliche gelten als besonders interessant, weil sie Pioniere der gesellschaftlichen Entwicklungen seien, sagen die Studien-Herausgeber.

Neues Milieu: die Expeditiven

Das neueste und modernste Milieu in Deutschland ist demnach das sogenannte expeditive Milieu. Dazu gehören laut Sinus rund 20 Prozent der jungen Männer und Frauen. Sie gelten als gesellschaftliche Avantgarde, weil sie es schaffen, einerseits die gestiegenen Anforderungen der modernen Leistungsgesellschaft zu erfüllen, andererseits aber auch ihren Alltag hedonistisch überformen, also nach Lust und Laune gestalten. Die Expeditiven sind angepasst, ohne langweilig zu sein. Sie suchen nach neuen Wegen und Herausforderungen, ohne schulische und soziale Verpflichtungen zu vernachlässigen.

DW-Grafik zum Sinus-Lebensweltenmodell (Quelle: Sinus-Institut)

Anna-Fee (16) und Lukas (15) gehören zu diesem Milieu. Beide kommen aus materiell abgesicherten Verhältnissen und sind überdurchschnittlich gut in der Schule. Sie können es sich also auch finanziell und zeitlich leisten, neue Pfade zu beschreiten. Beide sind individuell gekleidet, ohne zu sehr aufzufallen - also weder wie der Mainstream, noch wirklich "szenig". Obwohl Anna-Fee in einem Internat auf dem Land an der Nordsee lebt und Lukas in der Großstadt Berlin sozialisiert ist, ähneln sich ihre Ansichten und Wünsche, die sie in einem Online-Interview mit der DW geäußert haben.

Interesse an Politik, unzufrieden mit den Politikern

Beide interessieren sich für Politik, bewerten deren Zustand aber als statisch und kritisieren vor allem die Politiker. Lukas schreibt: "Politiker sollten bürgernah handeln und kompetent sein. Es gibt zu viele Politiker, denen ihre persönliche Karriere wichtiger ist als die Meinungen und Bedürfnisse derer, die sie eigentlich vertreten." Dabei sollten Politiker allen Menschen ein möglichst gutes Leben garantieren. Die Piratenpartei und die Grünen hätten viele gute Meinungen, Themen und Ideen, antwortet er auf die Frage nach seinen Parteipräferenzen.

Eigentlich sollten Politiker schlaue Leute sein, findet Anna-Fee. "Aber um ehrlich zu sein, finde ich viele fehl am Platz. Sie sind in der Politik, um sich für etwas einzusetzen oder etwas zu ändern; was schlussendlich dabei herauskommt, ist immer das Gleiche, beziehungsweise nichts."

Anna-Fee liest regelmäßig eine überregionale Qualitätszeitung, Lukas schaut sich politische Satire im Fernsehen an, und beide informieren sich regelmäßig auch im Internet über das politische Tagesgeschehen. Anna-Fee vermisst mehr Transparenz in der Politik-Berichterstattung. "Ich stimme in diesem Punkt der Piratenpartei zu", schreibt sie. "Mehr Transparenz, um gerade uns Jugendliche für die Politik zu begeistern!" Denn viele ihrer Altersgenossen würden Politik einfach nur als "öde und eine Erwachsenen-Angelegenheit" betrachten. Dabei gehe es doch gerade um ihre Zukunft, betont Anna-Fee, da Politik Zukunft schaffe.

Internet ist normal - Revival des Analogen

Zum Internet haben die Expeditiven ein abgeklärtes Verhältnis entwickelt. Das Medium ist für die sogenannten Digital Natives einfach nichts Besonderes mehr. Anders als ihre Eltern sagen sie nicht, dass sie gleich mal online gehen. Stattdessen sind sie via Smartphone oder Rechner sowieso ständig digital vernetzt.

Dadurch erlebt das analoge Leben ein Revival. 97 Prozent der Jugendlichen aus der Sinus-Studie geben als wichtigste Freizeitbeschäftigung an: "Mit Freunden zusammen sein". Auch das Fernsehen macht 98 Prozent der Befragten sehr viel Spaß. So ist es wenig verwunderlich, dass Lukas Online-Petitionen im Gegensatz zu "analogen" Demonstrationen weniger bedeutsam findet. "Es ist leichter, irgendwo draufzuklicken, als auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren." Dennoch seien solche Petitionen "eine gute Möglichkeit, Ideen möglichst schnell zu verbreiten". Ähnlich denkt Anna-Fee: "Bei einer Demo sieht die Regierung, wie sauer das Volk wirklich ist. Eine Petition ist nur eine Bittschrift, also nicht sehr emotional." Anna-Fee ist zudem besorgt über die Resonanzmöglichkeiten. "Man muss auch fragen, wie viele Petitionen wirklich durchkommen - vielleicht werden jährlich eine Million Petitionen eingereicht und nur 1000 kommen durch."

Pragmatisch engagiert

Der Trend zum analogen Leben gehört zu den von den Soziologen ausgemachten "Regrounding-Tendenzen" dieser Generation. Freundschaften und Familie werden wieder wichtiger - als Reaktion auf die neue Leistungsgesellschaft, in der sie leben. Auch soziales Engagement im Sinne von Miteinandersein, Helfen und Gestalten gehört dazu. Hier, im direkten Umfeld, sehen die Expeditiven die besten Möglichkeiten, sich zu engagieren. Weltanschauliche Punkte spielen dabei kaum eine Rolle, sondern es geht um ganz pragmatische Dinge.

Lukas ist Leiter einer Pfadfindergruppe, bestehend aus acht Jungen zwischen 12 und 14 Jahren. "Hier plane ich kleinere Aktivitäten für jeden Freitag, aber auch längere Fahrten." Soziales Engagement findet er gut, weil man andere unterstützt und auch selber etwas lernen kann, "was hilfreich ist und Spaß macht". Anna-Fee war zweieinhalb Jahre lang Schulsprecherin. "Es ist mir sehr wichtig, die Interessen meiner Mitmenschen einzubringen und mich um sie zu kümmern." Soziales Engagement bringe nicht nur ein gutes Gefühl für denjenigen, der hilft, sondern bringe "auch eine etwas bessere Welt".

Wunsch nach Spaß und Unabhängigkeit

Das zukünftige Leben soll für die neue Jugend keinesfalls nur aus Arbeit bestehen. Lukas will "nicht nur arbeiten, um Geld zu verdienen, sondern etwas Sinnvolles machen", das ihm "Spaß macht". Anna-Fee formuliert noch deutlicher den Wunsch nach Neuem. Das zeichnet die Expeditiven aus. Sie will sich von "allem Alten losreißen", ohne Hilfe anderer ein eigenes Leben aufbauen - und Spaß soll es machen. Unabhängigkeit ist auch für Lukas zentral. "Auf kürzere Zeit ist Unabhängigkeit wichtiger als Erfolg", schreibt er. Einen Plan für sein Leben will er keinen haben.

Anna-Fee und Lukas blicken beide - typisch für die jugendliche Avantgarde - optimistisch und selbstbewusst in ihre Zukunft, in der sie etwas Neues machen wollen, ohne schon sagen zu können, was genau das sein könnte. Sie wollen sich ausprobieren - und nehmen dafür auch ihre gewonnenen Werte mit auf den Weg. Anna-Fee möchte trotz Unabhängigkeit nämlich nicht alleine dastehen, sondern immer Freunde haben, als Stütze und Rückhalt.