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Juristischer Feldzug gegen Colonia Dignidad

30. Juli 2011

Im Fall Dignidad kündigen sich eine Zivilklage gegen den chilenischen und den deutschen Staat sowie eine Anklageerhebung vor internationalen Gerichten an. Nach 50 Jahren warten die Opfer immer noch auf Entschädigung.

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Das Haupttor der "Colonia Dignidad" Siedlung in Parral knapp 400 Kilometer südlich von Santiago in Chile, aufgenommen 1988. (Foto: dpa)
Hier kam niemand raus: Das Tor zur damaligen Colonia Dignidad war schwer bewachtBild: dpa

"Der chilenische Staat handelte fahrlässig, indem er der Organisation eines Päderasten, der aus Deutschland geflohen war, Rechtspersönlichkeit gewährte. Sie erhielt hohe Summen an Fördermitteln und genoss Steuerfreiheit", empört sich der Anwalt der Opfer, Hernán Fernández.

Die deutsche Enklave im Süden Chiles wurde 1961 von dem evangelischen Jugendpfleger Paul Schäfer gegründet, nachdem dieser sich durch seine Flucht aus Deutschland den juristischen Ermittlungen wegen mutmaßlichen sexuellen Kindesmissbrauchs entzogen hatte. Damals war die demokratisch gewählte konservative Regierung von Präsident Jorge Alessandri in Chile an der Macht.

Unter der Militärdiktatur von Augusto Pinochet wurde die nach außen hermetisch abgeriegelte Colonia Dignidad von der Geheimpolizei DINA als Folterzentrum benutzt. Selbst nach der Rückkehr Chiles zur Demokratie im Jahr 1990 blieb die deutsche Siedlung weitgehend abgeschottet, formell war sie als gemeinnützige Organisation anerkannt worden. Ein Krankenhaus für die Landbevölkerung der Region gab der obskuren Sekte einen sozial-charitativen Anstrich. Erst 1997, nach der Flucht von Paul Schäfer, begann sich die Enklave zu öffnen und erfuhr bedeutende Veränderungen.

Der Gründer der Colonia Dignidad, Paul Schäfer (Foto: AP)
Paul Schäfer gründete die Colonia Dignidad 1961 in ChileBild: dpa - Bildfunk

Staatliches Versagen

"Der Staat hat bis heute unzureichend und zu spät gehandelt. Die Anführer von Colonia Dignidad bildeten eine der gefährlichsten kriminellen Organisationen Chiles. Auf ihr Konto gehen schwere Verbrechen: massiver, organisierter Kindesmissbrauch, Zwangsarbeit, Entführung, Verschwindenlassen, Unterstützung der politischen Unterdrückung während der Diktatur, Mord, Waffenschmuggel, Herstellung von Kriegswaffen, Wirtschaftsverbrechen und Steuerhinterziehung. Trotz allem haben sie eine wohlwollende und privilegierte Behandlung genossen", behauptet der Anwalt Hernán Fernández.

Bis heute sind 26 Verantwortliche für diese Verbrechen von chilenischen Gerichten verurteilt worden. Fünfzehn von ihnen erhielten eine Strafe von fünf Jahren und einem Tag Gefängnis. Sie wurden gegen Kaution freigelassen und warten auf den endgültigen Urteilsspruch, den das Oberste Gericht des Landes fällen muss. Opferanwalt Fernández verlangt, dass die Anklagen gegen Hartmut Hopp, Paul Schäfers rechte Hand und Mitgründer der Colonia Dignidad, sowie gegen weitere ehemalige führende Personen verhärtet werden. Fernández fordert, sie als Mittäter vor Gericht zu stellen "weil sie durch ihre Billigung diesen Verbrechen Vorschub geleistet haben. Außerdem übten sie die Gewalt innerhalb der Gemeinschaft aus. Dafür könnten sie zu bis zu 20 Jahren Haft verurteilt werden."

Deutschland will strafrechtliche Verfolgung

Die deutsche Botschaft in Chile versichert, "dass die Bundesregierung weiterhin großes Interesse daran hat, eine umfassende Untersuchung und die strafrechtliche Verfolgung der kriminellen Handlungen zu erreichen, die von Seiten der Mitglieder der ehemaligen Colonia Dignidad begangen wurden". Bislang allerdings, darin sind sich Experten beider Länder einig, sind die von Deutschland und Chile eingeleiteten Schritte unzureichend.

Die chilenische Region Villa Baviera mit Bergmassiv und Feldern (Foto: Archivo Villa Baviera)
Fast wie in Bayern: Villa Baviera im Süden ChilesBild: Archivo Villa Baviera

"Andere Organisationen, die Wirtschaftsverbrechen verübt haben oder im Drogenhandel tätig waren, werden zu hohen Strafen verurteilt. Aber bei Colonia Dignidad ist das nicht der Fall". beklagt Hernán Fernández. "Es herrschte die Vorstellung, dass Paul Schäfer der einzige Verantwortliche war. Aber alle Untersuchungen und der juristische Prozess haben bewiesen, dass ohne die Mittäterschaft weiterer führender Personen nichts von alldem möglich gewesen wäre, was im Inneren der Colonia Dignidad vor sich ging. Sie haben sich hinter Paul Schäfer verschanzt, um ihre Verantwortung zu verbergen. Und die chilenische Justiz war nicht in der Lage, das zu durchbrechen."

Ein halbes Jahrhundert lang habe Colonia Dignidad wie ein Staat im Staat funktioniert, ohne jegliche Kontrolle über die Vorgänge in der deutschen Enklave. Opferanwalt Hernán Fernández wirft dem chilenischen Staat in diesem Zusammenhang eine Mitschuld an den Folterungen, sexuellen Übergriffe und anderen Verbrechen vor: "Durch Unterlassung hat Chile sich mitschuldig gemacht."

Auch der Anschein, dass sich nach der Flucht von Paul Schäfer und der Öffnung der Colonia Dignidad die Verhältnisse gebessert hätten, scheint zu trügen. Die Übergriffe auf Bewohner in der Villa Baviera, wie die Siedlung heute offiziell heißt, scheinen sich fortzusetzen. Ende 2010 reichte Fernández Strafantrag gegen den ehemaligen Anführer der Colonia Dignidad Rudolf Collen ein, der von einer deutschen Bewohnerin der Dorfes beschuldigt wird, sie 2004 vergewaltigt zu haben.

Schwere Folgeerscheinungen

"Der chilenische Staat hat keine Geldsorgen. Er hat aber den Opfern bislang jegliche Entschädigungszahlung verweigert", urteilt Fernández. "Aufgrund der Schwere und des chronischen Charakters des Falles Colonia Dignidad sowie der massiven Menschenrechtsverletzungen, die dort begangen worden sind, steht der Staat in einer besonderen Pflicht gegenüber den Opfern, denen einen Entschädigung zusteht", fügt er hinzu.

Der Fall des 57-jährigen Franz Baar ist ein Beispiel für das Versagen der Behörden. Der Chilene, dessen Name in der Colonia geändert wurde, entschloss sich 2003, den Ort zu verlassen. Seitdem lebt er am Existenzminimum und stützt sich auf die Hilfe des Anwalts Fernández. Er leidet an einem Nierenschaden, weil ihm dreißig Jahre lang Medikamente gespritzt wurden, "damit er an nichts anderes denkt als ans Arbeiten. Es war eine Art der Unterwerfung, Strafe und Kontrolle", meint Fernández. Die Unterstützung des chilenischen Staates war bisher gering. Baar wurde für die Dauer von drei Jahren eine monatliche Grundrente in Höhe von 290 Euro zuerkannt. Seiner Frau, ebenfalls eine ehemalige Bewohnerin der Colonia Dignidad, wurde diese Zahlung jedoch verweigert.

In einem kürzlich veröffentlichten Artikel der Süddeutschen Zeitung berichten Baar und seine Frau über ihre Probleme: Für die Bewohner der Villa Baviera sind sie Verräter, für die chilenischen Behörden schlicht ausländische Obdachlose. Hernán Fernández weist daraufhin, dass die Lebensumstände in der Colonia Dignidad aus vielen Bewohnern "physische, psychische und soziale Krüppel" gemacht haben. "Diesen Menschen ist sehr viel Schaden zugefügt worden, es sind mehrfach traumatisierte Opfer, die finanzielle und professionelle Hilfe benötigen, um die Folgeerscheinungen in den Griff zu bekommen und die Welt zu verstehen, nachdem sie 40 Jahre lang isoliert gelebt haben", erklärt Fernández.

Staatsanwalt Mauricio Richards bei einer Razzia in der Colonia Dignidad (Foto: Fiscalía Maule)
Staatsanwalt Mauricio Richards bei einer Razzia in der Colonia Dignidad, auf der Suche nach dem flüchtigen Hartmut HoppBild: Fiscalía Maule

Deutschland hat inzwischen erste Schritte unternommen: "2008 stellte der Bundestag dem Auswärtigen Amt zum ersten Mal Geldmittel zur Verfügung, um Projekte durchzuführen, die den ehemaligen Mitgliedern der Colonia Dignidad die Integration in die chilenische Gesellschaft erleichtern sollten", bestätigt die deutsche Botschaft in Santiago. Zu den Projekten zählt auch eine Therapie mit einer Expertengruppe, die von dem deutsch-chilenischen Psychiater Niels Biedermann geleitet wird, der mit Opfern von Menschenrechtsverbrechen zusammengearbeitet hat.

Entschädigung in Millionenhöhe

Auch Winfried Hempel verlangt eine Entschädigung für erlittenes Leid. Der ehemalige Bewohner der Colonia Dignidad hat vor kurzem seine Zulassung als Anwalt erhalten. Gemeinsam mit weiteren ehemaligen Insassen der Colonia Dignidad, die er in Deutschland und in Chile ausfindig machen konnte, will Hempel Zivilklage gegen den chilenischen und den deutschen Staat einreichen wegen der Nachlässigkeit beider Länder angesichts der Verbrechen, die ein halbes Jahrhundert lang innerhalb der Sekte verübt wurden. Angaben von Hempel gegenüber einer chilenischen Zeitschrift zufolge beträgt die geforderte Entschädigungssumme ca. 150 Millionen Dollar.

Martin Matthusen, ein Nachfahre der ersten Bewohner der Colonia Dignidad, ist mit dieser Forderung nicht einverstanden: "Ich glaube nicht wirklich daran, und ich unterstütze sie auch nicht, so wie die große Mehrheit. Die gleichen Leute, die heute klagen wollen, waren Teil von Villa Baviera. Wir, die wir hier waren, haben uns gegen die chilenische und deutsche Regierung gestellt. Es mag sein, dass der chilenische Staat zu bestimmten Zeiten ein Auge zugedrückt hat gegenüber dem, was hier passierte, und während der Militärregierung kam es sogar zur Zusammenarbeit. Aber ohne die Intervention von Chile und Deutschland würden wir heute immer noch unter dem Regime von Paul Schäfer leben", fügt er hinzu.

Das Schweigen der chilenischen Regierung

Ein Frau mit zwei Kindern in der Colonia Dignidad in Chile (Foto: dpa)
Eine Szene wie aus den 50er Jahren: Kindermädchen in Colonia Dignidad im Jahr 2005Bild: dpa - Bildfunk

Trotz des weithin bekannten Ausmaßes der Tragödie haben die chilenischen Regierungen der letzen zwanzig Jahre, seit der Rückkehr des Landes zur Demokratie, in dieser Angelegenheit nur unzureichend gehandelt. Experten erkennen zwar an, dass es unter der Mitte-links-Koalition Concertación por la Democracia kleine Fortschritte gab. So unternahm die Polizei auf der Suche nach Paul Schäfer mehrfach Razzien auf dem Gelände der Colonia Dignidad. Doch der Anführer konnte den Behörden 1997 entkommen und sich nach Argentinien absetzen. Bei den Durchsuchungen wurden hingegen umfangreiche illegale Waffenlager entdeckt.

Paul Schäfer wurde im März 2005 in Argentinien verhaftet und nach Chile ausgeliefert, wo er ein Jahr später wegen Kindesmissbrauchs in 25 Fällen zu zwanzig Jahren Haft verurteilt wurde. Am 24. April 2010 starb Schäfer im Alter von 88 Jahren im Gefängniskrankenhaus in Santiago.

Doch noch immer sind zahlreiche Verfahren anhängig und die Rolle des chilenischen Staates ist nicht restlos aufgeklärt. Von Seiten der seit 2010 amtierenden Regierung von Präsident Piñera hat es bislang jedoch keinerlei Stellungnahme zum Thema Colonia Dignidad gegeben. DW-WORLD.de hat wiederholt versucht, ein Interview mit dem chilenischen Innenministeriums zu führen, das für den Fall zuständig ist. Die Behörde hat jedoch auf die Anfragen nicht reagiert.

"Das zeigt, dass der Fall Colonia Dignidad für den chilenischen Staat nicht wichtig ist. Hier haben sich wahre menschliche Tragödien abgespielt, und die Behörden ignorieren das Lied der Betroffenen", kritisiert Anwalt Fernández. "Wir erwarten eine Antwort von den politisch Verantwortlichen: Ich erwäge derzeit, eine Klage bei internationalen Gerichten einzureichen", gibt er bekannt.

Autorin: Victoria Dannemann/ Violeta Campos
Redaktion: Mirjam Gehrke