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"Juschtschenko läuft die Zeit davon"

4. Mai 2005

In den ersten 100 Tagen der Präsidentschaft Juschtschenkos gab es eine erfolgreiche Außenpolitik. Aber die Innenpolitik kommt zu kurz, sagte der deutsche Politologe Alexander Rahr im Gespräch mit DW-RADIO/Ukrainisch.

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Interview mit DW-RADIO

Nicht alles verlief in den ersten 100 Tagen reibungslos, meint Alexander Rahr von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Er betont, dass in dieser Zeit immer noch Machtkämpfe unter Juschtschenkos Anhängern ausgetragen worden seien:

"Frau Tymoschenko, die energiegeladen ist und voller Ideen sprüht, um die Reformen in der Ukraine voranzutreiben, fühlt sich eingeengt durch Konkurrenten aus dem Lager Juschtschenkos, die ihr diese große Machtfülle in der Regierung nicht ganz und voll übergeben möchten. Gleichzeitig macht Juschtschenko auch innenpolitisch noch keine so glückliche Figur. Er hat sich kaum mit den inneren Reformen oder der Wirtschaftsmobilisierung in seinem Land beschäftigt, sondern reist nur im Ausland herum und versucht, so schnell wie möglich die Ukraine in die NATO und EU zu führen."

Eine der Haupterrungenschaften der neuen ukrainischen Staatsmacht ist die spürbare Verbesserung des Ansehens der Ukraine in der Welt. Indem er die Ukraine sicher auf den Kurs der europäischen Integration gebracht und somit eines seiner Wahlversprechen eingelöst hat, gelang es dem Präsidenten, im Ausland Anerkennung zu erhalten. Aber die Innen- und Wirtschaftspolitik kommen angesichts dieser Aktivitäten des Präsidenten zu kurz, so Alexander Rahr. Er betonte aber:

"Es ist noch zu früh zu sagen, ob er Fehler gemacht hat oder nicht. 100 Tage sind nicht genug, um ein abschließendes Urteil über seine Politik bilden zu können. Vielleicht wird er in den nächsten Wochen und Monaten, in den nächsten 100 Tagen sich mehr der Innenpolitik widmen. Momentan sieht es danach aus, als ob sich der Präsident mehr um sein außenpolitisches Image kümmert und den Reformeifer einiger seiner Mitstreiter nicht so unterstützt, wie er das hätte machen müssen."

Alexander Rahr macht auch darauf aufmerksam, dass in der Ukraine noch kein Durchbruch in der Wirtschaft erreicht worden ist, mit dem viele nach der orangefarbenen Revolution gerechnet hatten:

"Es gibt, was auch von Spezialisten und Diplomaten sehr kritisiert wird, keinen wirklichen Dialog zwischen der Wirtschaft und der Politik. Es kann natürlich sein, dass Juschtschenko und Tymoschenko mit den ukrainischen Oligarchen nicht reden wollen, sie in die Ecke treiben wollen, möglicherweise zum Verkauf ihrer Konzerne zwingen und sie dann ins Ausland treiben wollen. Das kann natürlich sein. Aber diese Oligarchen sind teilweise noch stark genug, die von ihnen unter Kutschma privatisierten Konzerne zu kontrollieren. Solange es keinen wirklichen Dialog oder eine Zusammenarbeit zwischen den ukrainischen Wirtschaftskapitänen, von denen ja nicht alle Oligarchen sind, und der Regierung gibt, wird die Wirtschaft nicht vorangetrieben."

Zu den von Juschtschenko vorgenommenen personalpolitischen Entscheidungen sagte Alexander Rahr:

"Wenn man vom Westen spricht, dann wurden viele Ernennungen Juschtschenkos zunächst laut begrüßt, weil man gesehen hat, dass er politische Schwergewichte in die Regierung gebracht sowie ausgewiesene Reformer und Zivilleute an die Schaltstellen der sogenannten Gewalt-Ministerien gesetzt hat. Gleichzeitig sieht man aber, dass man in der Regierung noch nicht von einer geschlossenen Mannschaft sprechen kann."

Um diese Situation zu ändern, bleibt Juschtschenko nicht viel Zeit, so Alexander Rahr:

"Im Grunde genommen läuft ihm ein bisschen die Zeit davon, auch in seiner Personalpolitik, weil er schon in weniger als in einem halben Jahr Teile seiner Macht mit dem Parlament wird teilen müssen und in weniger als einem Jahr ganz schwierige Parlamentswahlen in der Ukraine bevorstehen und möglicherweise die Macht Juschtschenkos auch eingeschränkt wird."

Alexander Rahr macht darauf aufmerksam, dass vor allem im Westen mit den kommenden Monaten der Präsidentschaft Juschtschenkos große Hoffnungen verbunden werden. Dabei geht es vor allem um Reformen in der Ukraine, ohne die eine schnelle Integration in die NATO und EU nicht möglich sind:

"Das Potential hat er auf jeden Fall. Er ist der große Revolutionsführer in der Ukraine und ich glaube, dass er noch über genügend Autorität im In- und Ausland verfügt. Er kann vom Ausland jede erdenkliche Hilfe für seine Reformpolitik erbeten. Er wird sie auch bekommen. Bisher sind viele Ankündigungen gemacht worden und der Westen hat auch bestimmten Schritten applaudiert, aber die breite Bevölkerung fühlt diese positiven Veränderungen noch nicht und von der breiten Bevölkerung wird es abhängen, inwieweit wirklich sein Rating auch weiterhin oben bleibt und ob er sich in den nächsten Monaten der schwierigen politischen Machtkämpfe - Parlamentswahl als Stichpunkt - wird durchsetzen können."

Lesya Yurchenko
DW-RADIO/Ukrainisch, 2.5.2005, Fokus Ost-Südost