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Justitia im Klassenzimmer

Henrik Hübschen4. Dezember 2003

In Bayern testet die Justiz ein neues Mittel gegen Jugendkriminalität. Schüler verhängen erzieherische Maßnahmen über jugendliche Straftäter. Und die kommen so um eine Vorstrafe herum.

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Aufsatz statt VorstrafeBild: Bilderbox

Siggi Jepsen wäre so manches erspart geblieben, zumindest die Jugendstrafanstalt. Seinen Aufsatz hätte die Hauptfigur aus Siegfried Lenz' Literaturklassiker "Deutschstunde" allerdings trotzdem schreiben müssen. "Aufsatz schreiben" oder genauer gesagt die "schriftliche Reflexion über das eigene Verhalten" ist eine der möglichen erzieherischen Maßnahmen, mit denen jugendliche Straftäter zwischen 14 und 18 in Ansbach, Aschaffenburg und Ingolstadt auf den berühmten Pfad der Tugend zurückgeführt werden sollen.

In diesen Städten hat die bayerische Justiz drei so genannte kriminalpädagogische Schülerprojekte gestartet. In Aschaffenburg schon im November 2000, in Ansbach und Ingolstadt erst im Frühjahr 2003. Dort müssen Jugendliche, die eine leichte Straftat begangen haben (zum Beispiel Ladendiebstahl), nicht sofort vor den Jugendrichter. Sie können sich vor einem Gremium aus drei Schülern für ihre Tat verantworten. Das Gremium denkt sich dann eine Strafe aus. Wird die von den Straftätern angenommen, stellt die Staatsanwaltschaft in der Regel das Verfahren ein.

Schülergremien sind keine Teen Courts

Die Grundidee stammt aus den USA. Dort gibt es schon seit den 1970er-Jahren die so genannten Teen Courts. Inzwischen sind es dort über 900. Schüler schlüpfen dabei in die Robe und in die Rolle von Anwalt und Staatsanwalt und stellen auch die Geschworenen. Ihre Urteile über jugendliche Straftäter sind verbindlich, die Schüler üben also richterliche und staatsanwaltliche Aufgaben aus.

Die Idee, dass nicht Erwachsene, sondern Gleichaltrige über jugendliche Straftäter urteilen, findet sich auch im bayerischen Modell wieder. Allerdings deutlich abgewandelt. Nach dem deutschen Jugendstrafrecht ist eine tatsächliche Abgabe von richterlicher Kompetenz an die Schülergremien nämlich nicht zulässig. Und sie wäre auch gar nicht erwünscht. Für Hans Kornprobst vom bayerischen Justizministerium liegt der Vorteil der Schülergremien gerade darin, dass sich die beurteilenden Schüler und der jugendliche Straftäter "auf Augenhöhe begegnen". Das führe dazu, dass sich der Straftäter tatsächlich öffnen könne und bereit sei, seinen Fehler zu erkennen. In einer Art Verhandlung am "Runden Tisch" legt das Schülergremium dann gemeinsam mit dem Straftäter eine "erzieherische Maßnahme mit Lerneffekt" fest. Diese Maßnahme steht oft im Zusammenhang mit der Tat. So musste zum Beispiel ein 17-Jähriger, der ein Auto beschädigt hatte, insgesamt zehn Stunden lang die Rettungswagen des Malteser Hilfsdienstes waschen.

Drei alleine können es nicht richten

Damit die Schüler nicht überfordert werden, kommen allerdings nur von der Polizei und Staatsanwaltschaft ausgesuchte Fälle auf den Tisch. Wichtigste Kriterien dabei: Ein vollständig geklärter Sachverhalt und ein geständiger Täter, der einer Verhandlung durch das Schülergremium zugestimmt hat. Anfangs wurden außerdem nur Fälle von Ersttätern behandelt, die zudem nur kleinere Delikte wie Ladendiebstahl, Schwarzfahren oder Sachbeschädigung durch Graffiti begangen hatten. In Aschaffenburg werden inzwischen aber auch schwerere Fälle wie Körperverletzung oder Drogenbesitz einbezogen.

Die Schüler werden außerdem von Sozialpädagogen vorbereitet und betreut. Hinter jedem der drei Schülergremien steht ein eingetragener Jugendhilfe-Verein. Daran scheitert bisher allerdings auch die Einbeziehung weiterer Städte. Denn: Wo kein Trägerverein, da auch kein Schülergremium.

Dabei weckt die bisherige Bilanz des Projektes durchaus den Wunsch auf mehr solcher Modelle. Professor Heinz Schöch von der Ludwig-Maximilians-Universität München, der das Projekt wissenschaftlich begleitet, hat in einer ersten Zwischenbilanz Vorteile für Schüler und Straftäter ausgemacht: Die Schüler lernen die sozialen Verhältnisse und Probleme der Straftäter kennen und übernehmen früh gesellschaftliche Verantwortung. Die Straftäter haben sich in 178 von 190 Fällen an die beschlossenen Maßnahmen gehalten und sind so um eine mögliche Vorstrafe herum gekommen. Nur um's Aufsatzschreiben vielleicht nicht.