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Das Warten auf die Entwarnung

Sven Pöhle27. Mai 2015

Schließlich ging doch alles gut. Kurz vor 16 Uhr meldete Köln die Entschärfung der Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg. Der 20 Zentner schwere Stahlkoloss hatte die Stadt stundenlang in Atem gehalten.

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Die entschärfte Fliegerbombe liegt am 27.05.2015 unterhalb der Mülheimer Brücke in Köln (Nordrhein-Westfalen) am Bombenfundort auf der Ladefläche eines LKW. (Foto: Rolf Vennenbernd/dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/R. Vennenbernd

"Wir fangen jetzt an", ruft ein Leiter der Rettungskräfte um kurz nach 9 Uhr. Rund 1300 Bewohnerinnen und Bewohner müssen das Gelände der Sozial-Betriebe Köln im Stadtteil Riehl verlassen - ebenso wie rund 20.000 weitere Bürger aus der näheren Umgebung. Grund für die größte Evakuierungsaktion in Köln seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist eine 20 Zentner schwere Fliegerbombe, die Ende vergangener Woche in der Nähe des Alten- und Pflegeheims gefunden wurde. Aus zwei Dutzend Rettungswagen rollen Helfer und Helferinnen mehrere Liegen in ein Gebäude, in dem besonders pflegebedürftige Menschen untergebracht sind. Fast 200 Personen müssen liegend transportiert werden. Einer nach dem anderen wird herausgeschoben, in einen Krankentransporter gehoben und in ein Krankenhaus außerhalb des gefährdeten Bereichs gefahren.

Rettungskräfte bringen Senioren aus dem Alten- und Pflegezentrum der Sozial-Betriebe Köln in Riehl in umliegende Krankenhäuser (Bild: DW/Sven Pöhle)
Rettungskräfte bringen Senioren aus dem Alten- und Pflegezentrum in umliegende KrankenhäuserBild: DW/S. Pöhle

Ingrid und Roland Hähnel verlassen das Gelände eigenständig. Die Eheleute - sie 78 und er 80 - gehören zu den Bewohnern, die noch ausreichend mobil sind. "Wir gehen zu Fuß. Für uns ist gesorgt", sagt Roland Hähnel. "Aber wir haben hier in der Einrichtung ja sehr viele behinderte und kranke Menschen, die versorgt werden müssen. Was das Personal an solchen Tagen leistet, das kann man eigentlich nicht hoch genug achten, denn die Leute müssen ja angezogen, versorgt und betreut werden." Neben etwa 250 Helfern der Sozial-Betriebe unterstützen die Evakuierung rund 800 Einsatzkräfte von Feuerwehr, Polizei, Rettungs- und Fahrtdiensten und des Ordnungsamtes.

Die Betreuung sei auch wichtig, da das Ereignis bei vielen der älteren Bewohnern Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg auslöse, erzählt das Ehepaar. "In Situationen wie dieser wird plötzlich das ein oder andere wieder wach. Dinge, die lange unterdrückt waren", sagt Roland Hähnel. "Man ist nachts durch das kleinste Geräusch der Sirenen geweckt worden und musste im Dunkeln in den Luftschutzkeller oder den nahgelegenen Bunker", erinnert sich seine Frau an die Kriegszeit, in der die Alliierten Hunderttausende Fliegerbomben über Nazi-Deutschland abwarfen.

Die Eheleute Roland und Ingrid Hähnel in ihrer Wohnung auf dem Gelände der Sozial-Betriebe Köln (Bild: DW/Sven Pöhle)
Die Eheleute Roland und Ingrid HähnelBild: DW/S. Pöhle

Auch 70 Jahre nach Kriegsende tauchen etwa bei Bauarbeiten immer wieder Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg auf. Roland und Ingrid Hähnel haben bereits drei Evakuierungen miterlebt, seit sie 2009 ihre Wohnung in dem Alten- und Pflegeheim bezogen haben. "Bislang ist es immer ohne Zwischenfälle abgelaufen, aber man weiß ja nie", sagt Roland Hähnel, bevor er gegen zehn Uhr die Wohnung im 8. Stock abschließt und sich gemeinsam mit seiner Frau in Richtung Festsaal aufmacht, wo sich beide offiziell abmelden.

Um diese Zeit haben Polizei und Ordnungsamt bereits die meisten Straßen im Gefahrenbereich abgesperrt. In Teams gehen die in neongelbe Westen gekleideten Mitarbeiter des Amtes von Tür zu Tür und schauen, ob sich noch Bewohner in den Häusern befinden. Dieses Mal hätten zwei Bewohner das Sperrgebiet erst verlassen, als die Polizei den Kontrolleuren zur Hilfe kam, sagt Herbert Büth vom Ordnungsamt.

Im Sperrgebiet gehen Mitarbeiter des Ordnungsamtes von Tür zu Tür. Sie überprüfen, ob sich noch Anwohner in den Gebäuden befinden. (Bild: DW/Sven Pöhle)
Im Sperrgebiet überprüft das Ordnungsamt, ob sich noch Anwohner in den Gebäuden befindenBild: DW/S. Pöhle

Im Alten- und Pflegeheim in Riehl sind inzwischen weitere Transporter angekommen. Mit vereinten Kräften helfen Feuerwehrleute den Senioren in die Fahrzeuge. "Habt ihr noch Platz für einen Rennwagen", scherzt ein Mann mit Rollator. Die umstehenden Senioren lachen. Ein wenig Routine sei so eine Evakuierung inzwischen schon, sagt Helene Hirsch. Die 88-Jährige hat sich zum Verschnaufen auf ihre Gehhilfe gesetzt, in die sie sich am frühen Morgen etwas Verpflegung gepackt hat. Eine Betreuerin, die an ihr vorbeigeht, erzählt einem Kollegen leicht verärgert, dass sie trotz Schichtende nicht nach Hause könne. Sie wohnt in Mülheim, auf der gegenüberliegenden Rheinseite. Auch dort besteht für einige Anwohner noch Gefahr durch die Bombe.

Warten auf die Evakuierung

Die Fliegerbombe liegt knapp hinter der Mülheimer Brücke auf der linken Rheinseite. Unter der Brücke liegen Habseligkeiten von Obdachlosen, die hier Schutz finden. Sie müssten ihren Unterschlupf bereits verlassen. Einige Matratzen, Decken und ein Stuhl blieben zurück. Einen Steinwurf entfernt stehen die dunkelblau-uniformierten Männer vom Kampfmittelbeseitigungsdienst nur ein paar Schritte entfernt von dem Bombenkrater. In fünfeinhalb Metern Tiefe liege der 1,76 lange Blindgänger, erklärt Wolfgang Wolf um die Mittagszeit. Er ist Experte für Kampfmittelbeseitigung bei der Bezirksregierung Düsseldorf. Der 62-Jährige mit dem weißen Bürstenhaarschnitt und dem grauen Zwirbelbart entschärft die US-amerikanische Fliegerbombe gemeinsam mit seinem Kollegen Dirk Putzer.

Die Truppführer des Kampfmittelbeseitigungsdienstes, Wolfgang Wolf und Dirk Putzer, stehen wenige Schritte von dem Fundort der Fliegerbombe entfernt. (Bild: DW/Sven Pöhle)
Erfolgreich: Wolfgang Wolf und Dirk PutzerBild: DW/S. Pöhle

Rund 60 Zentimeter Durchmesser umfasst der 1000 Kilogramm schwere Stahlkoloss. Etwa 550 Kilogramm davon sind TNT. Das ist nach wie vor hochexplosiv. "Sprengstoff verrottet nie", sagt Wolf. Das Ausmaß der Zerstörung wäre verheerend: Gebaut ist die Bombe so, dass sie im Umkreis von gut 100 Metern alles pulverisiert. Zusätzlich zu der oberirdischen Detonation, bei der Stahlteile in einem Radius von bis zu einem Kilometer verstreut werden können, gibt es eine massive unterirdische Schockwelle. Ein flaues Gefühl habe er angesichts dessen nicht, sagt Wolf. Ebenso wenig verspüre er Routine, weil er bereits seit 44 Jahren eine Vielzahl von Bomben und Munition aus dem Zweiten Weltkrieg entschärft habe. "Das ist hier fehl am Platze", sagt er. Sein Kollege Putzer nickt. Die Zünder entschärfen können die beiden erst, wenn die gefährdeten Bereiche menschenleer sind. Bis dahin müssen sie noch warten.

Warten auf den Sprengmeister

Warten müssen auch die Anwohner der betroffenen Stadtteile. In drei von der Stadt eingerichteten Anlaufstellen haben sich mehrere Hundert versammelt und hoffen auf einen guten Ausgang der Entschärfung. Im Keller des Bundesverwaltungsamtes in Niehl sitzt der 78-jährige Peter Schiller. Ein befreundeter Nachbar hatte ihn und die 83-jährige Marianne Conrads gefahren. Im Keller des Gebäudes haben beide die 78-jährige Elisabeth Schiller kennengelernt. Gemeinsam tauschen die drei Geschichten aus, über das Evakuierung und die Zeit im Krieg. Für Marianne Conrads eine willkommene Abwechslung: "Zu Hause sitzt man ja mehr im Stillen", sagt sie und ihre Tischnachbarn nicken.

Während im Keller munter diskutiert wird, ist es im Sperrgebiet still geworden. Der Kölner Zoo hat gar nicht erst aufgemacht. Die Tiere sind in den geschützten Innenbereich der Gehege gebracht worden. Die Schulen in der Umgebung und die Geschäfte blieben ebenfalls geschlossen. Gegen 15.30 Uhr hält die Stadt den Atem an. Kurz vor der Entschärfung wurden auch Hauptverkehrsstraßen, Bahnverbindungen, Wasserwege und Luftraum in der Umgebung gesperrt. Um 15:53 Uhr meldet Sprengmeister Wolf dann die Entschärfung der Bombe.

Für einige der Bewohner des Alten- und Pflegeheims wird es noch mehrere Stunden dauern, bis sie wieder in ihrer vertrauten Umgebung sind. Für andere Anwohner geht es schneller. Zum Glück, findet Hans-Joachim Horn: "Ich werde mich direkt ins Bett legen", sagt der beinamputierte 74-Jährige. Er ist bereits seit sechs Uhr unterwegs. In seinem Elektro-Rollstuhl fährt er nach Hause, wo nach der ungewohnten Ruhe wieder die gewohnte Betriebsamkeit herrscht.