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Künftig sozial-liberal?

Vladimir Müller16. Juni 2002

In Tschechien wurde ein neues Parlament gewählt. Die meisten Stimmen - fast ein Drittel - bekamen die regierenden Sozialdemokraten mit ihrem Spitzenkandidaten Vladimir Spidla. Vladimir Müller kommentiert.

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Der Urnengang ist zu Ende, der künftige Regierungschef Vladimir Spidla muss sich aber noch entscheiden. Seine Sozialdemokratische Partei ist zwar wieder als die stärkste Kraft im Land aus den Wahlen hervorgegangen. Zum Regieren aber braucht Spidla einen Koalitionspartner.

Eine große Koalition mit der Demokratischen Bürgerpartei ODS ist nur rein rechnerisch möglich. Der 51-jährige Historiker und bisherige Arbeitsminister Spidla will lieber die im Transformationsland Tschechien noch ausstehenden Reformen in einer Mehrheitsregierung mit der so genannten Zweier-Koalition aus Christdemokraten und Liberalen fortsetzen. Nur, diese Mitte-Links-Mehrheit würde lediglich aus einer Stimme bestehen. Keine gute Ausgangslage in einer Legislaturperiode, in der wichtige Entscheidungen anstehen. Also doch ein Zusammengehen mit der bürgerlichen ODS?

Wohl kaum. Zumindest nicht mit ihrem Chef Václav Klaus, dem eindeutigen Verlierer dieser Wahl. Bis zuletzt glaubte der 61-jährige Wirtschaftwissenschaftler an seinen Sieg und den Chef-Sessel in einer Koalition. Doch nur knapp ein Viertel der Wähler wollte dem charismatischen Thatcher-Verehrer eine neue Chance geben. Kaum Erfolg hatte Klaus auch mit seiner populistisch angehauchten Haltung Europa gegenüber. Es gibt ja auch in Tschechien Befürchtungen vor einer Übermacht in Brüssel und vor Verlust der "nationalen Identität" - was immer diese auch bedeuten mag.

Protestwähler mit diesen Ängsten aber fühlten sich wohl besser aufgehoben in der Kommunistischen Partei Tschechiens und Mährens. Als einzige Partei konnte dieses Relikt vergangener Zeiten einen nennenswerten Zuwachs verzeichnen und mit fast 19 Prozent zur drittstärksten Kraft im Parlament aufsteigen. Doch dieser Sieg bleibt zunächst ohne Folgen: Keine Partei will die orthodoxen Linksaußen als Regierungspartner; durch stärkere Vertretung in Parlamentsausschüssen wird aber die Partei, die nie klar Stellung zu ihren Verbrechen aus der Vergangenheit bezogen hat, an Einfluss gewinnen. Angesichts ähnlicher Zahlen von Protestwählern unter den gegenwärtigen EU-Mitgliedsländern keine wirkliche Besonderheit.

Ein EU-Land will Tschechien bei der nächsten Erweiterungsrunde im Jahr 2004 werden. Die Beitrittsverhandlungen über die Harmonisierung des tschechischen Rechtssystems mit dem der EU sollen bis Ende des Jahres abgeschlossen sein. Nicht nur für Deutschland ist in diesem Zusammenhang von Interesse, welche Haltung die neue Regierung in Prag zu den Benes-Dekreten einnehmen wird. Der künftige Premier Spidla hat dieses Rechtswerk, das die Vertreibung der Deutschen nach dem 2. Weltkrieg aus der damaligen Tschechoslowakei rechtfertigte, im Wahlkampf verteidigt. In seiner Rhetorik ging Spidla aber nie so weit wie sein Gegenkandidat Klaus. So ist zu erwaten, dass in einer sozial-liberalen Regierung in Prag eine rasche Harmonisierung mit den EU-Normen auch in der Frage der Benes-Dekrete zu erreichen ist.