1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Heimatkunde

16. September 2011

Deutschland hat sich verändert. Unter dem Titel "Heimatkunde" zeigt das Jüdische Museum in Berlin nun eine Sonderausstellung, in der 30 Künstler ihre zentrale Wahrnehmung in und von Deutschland thematisieren.

https://p.dw.com/p/RmCw
Logo der Ausstellung 'Heimatkunde' im Jüdischen Museum Berlin

Zuerst sind da die Kübel mit den Pflanzen. Maria Thereza Alves hat sie gezüchtet. Die Künstlerin, die in Brasilien geboren wurde, in New York aufwuchs und jetzt zeitweise in Berlin lebt, hatte in der deutschen Hauptstadt Erde gesammelt, am Wegesrand, auf Brachen und Baustellen. Die Samen, die sie darin gefunden hat, hat sie eingepflanzt. Herausgekommen ist dabei ein hübscher kleiner Schaugarten für den Eingangsbereich der Ausstellung "Heimatkunde". Und die Erkenntnis, dass sich fremde Pflanzen hierzulande ebenso wohl fühlen wie eine ganze Reihe von Menschen aus anderen Ländern.

Verändertes Deutschland

Man habe sich vorgenommen, mal zu schauen, wie die Bundesrepublik heute aussieht, erläutert Cilly Kugelmann, die stellvertretende Direktorin des Jüdischen Museums. Schließlich habe sich das Land verändert - durch den Zusammenbruch der Sowjetunion, infolge der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten und angesichts des Eingeständnisses, dass mittlerweile fast 20 Prozent der hier lebenden Bürger einen sogenannten Migrationshintergrund haben. Heute leben knapp vier Millionen Moslems in Deutschland. Die meisten von ihnen sind Türken, aber es gibt auch Muslime aus vielen anderen Ländern, und dann sind da ja noch all die anderen Menschen nichtdeutscher Herkunft. Davon hat ein Teil die deutsche Staatsbürgerschaft, ein anderer Teil hat sie nicht. Es sei also, sagt Cilly Kugelmann, "eine Gesellschaft, die überhaupt nicht mehr als 'ethnisch homogen' zu bezeichnen ist."

Maziar Moradi, aus der Serie 'Ich werde deutsch', 2008-2011 (Copyright: Maziar Moradi)
Maziar Moradi, aus der Serie 'Ich werde deutsch'Bild: Maziar Moradi

Im Jüdischen Museum will man nun mit den Mitteln der Kunst herausfinden, wie 'ethnische' und eingebürgerte Staatsbürger, zugereiste Ausländer, Juden, Muslime, Christen und religiös Indifferente heute in Deutschland leben, wie sie selbst sich hier verorten und wie Zuwanderung sowohl Migranten als auch Einheimische verändert. "Ich werde deutsch" hat zum Beispiel der im Iran geborene Maziar Moradi seine Serie von Fotografien genannt, in denen er Schlüsselszenen aus dem Leben von Menschen inszeniert hat, die entweder nach Deutschland eingewandert oder in einer anderen Kultur verwurzelt sind – die Frau im Hotelzimmer, der Arzt am OP-Tisch, die schwarze Frau inmitten hellhäutiger Puppen.

Bei sich sein

Als Helden ihrer eigenen Geschichte hat Moradi seine Protagonisten dargestellt. Kennengelernt hat er sie auf Hamburgs Straßen, Männer und Frauen, die Demütigungen erfahren haben und die sich durchbeißen mussten. Die schließlich angekommen sind in Deutschland und Deutschland nun bereichern, das Land verändern und sich mit dem Land verändern. Die aus Bosnien stammende Künstlerin Azra Aksamija hat das wunderbar eingängig dargestellt in ihrer Arbeit "Dirndlmoschee". Die zeigt ein Dirndl, dessen Schürze sich in einen muslimischen Gebetsteppich verwandeln lässt, und erzählt dabei auch, dass man seine Religion immer bei sich trägt, egal, wie sehr man sich einer Kultur anverwandelt. Aber das Leben in einer anderen Kultur hat eben auch zur Folge, dass sich die eigene Religion allmählich verwandelt.

Julian Rosefeldt, Meine Heimat ist ein düsteres wolkenverhangenes Land, Filminstallation, 2011 (Copyright: Julian Rosefeldt)
Julian Rosefeldt, Meine Heimat ist ein düsteres wolkenverhangenes Land, Filminstallation, 2011Bild: Julian Rosefeldt

Blick zurück nach vorn und über die Schulter

Die 30 an der Ausstellung beteiligten Künstler, die allesamt in Deutschland leben oder gelebt haben, betreiben ihre heimatkundlichen Studien aus höchst unterschiedlichen Perspektiven und in allen erdenklichen Formen. Sie erzählen Familiengeschichten, fragen nach den Folgen von Nationalsozialismus und Massenmord und entwickeln bemerkenswerte Utopien. Etwa die Idee vom Medinat Weimar, einem neuen jüdischen Staat im Bundesland Thüringen. Und gleich mehrere Künstler blicken mit Humor und einem ausgeprägten Sinn für Ironie auf das, was gemeinhin als typisch deutsch gilt, auf Mythen, Märchen und den Wald. Dorthin entführt Julian Rosefeldt die Betrachter mit Hilfe von parallel montierten Filmen und Waldbildern. Auf seinem abgefahrenen Trip seziert er genussvoll fragwürdige deutsche Tugenden wie Ordnungssinn, Pedanterie und Fleiß. Er lasse dem Mythos ein bisschen die Hosen runter, sagt Rosefeldt. Andererseits handele es sich nicht um eine Arbeit, "die jetzt konkret eine Aussage trifft, sondern eher verschiedene Welten beschreibt und in neuer, absurder Collage zusammenwürfelt".

Was ungemein kurzweilig ist und zu so sonderlichen Fragen führt wie der, ob die in Deutschland verbreitete Engstirnigkeit vielleicht etwas mit der Dichte seiner Wälder zu tun hat. Überhaupt ist es diese Leichtigkeit und Freude an hintersinnigen Überlegungen, die die Ausstellung so interessant machen.

Wie sehr die Ausstellungsmacher den sprichwörtlichen deutschen Bierernst überwunden haben, belegt nicht zuletzt die Tatsache, dass Cilly Kugelmann, die Vizedirektorin des Jüdischen Museums, zur Pressevorbesichtigung einen kessen schwarz-rot-goldenen Schal trug. Die Marke Deutschland kann man nämlich spätestens seit der zauberhaften Fußballweltmeisterschaft 2006 wieder ziemlich entspannt zur Schau stellen - im Jüdischen Museum wie auf Halstüchern oder Regenponchos in Nationalfarben.

Autorin: Silke Bartlick
Redaktion: Marlis Schaum