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Kalte Herzen in Thailand

Patrick Tippelt, Bangkok5. April 2005

Das erneute Seebeben in Südasien in der vergangenen Woche mit mehr als 1000 Toten beschäftigte die Weltpresse und die Medien vor Ort. Ganz anders in Thailand.

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Wichtigere Themen als das Seebeben in der Haupstadtzeitung

Die Panik erreichte die Ersten per Handy. Freunde aus Übersee schickten ihnen Kurzmitteilungen mit der erschreckenden Nachricht von einem starken Seebeben nahe der indonesischen Nias-Insel. Minuten später waren die Straβen der Strandorte an der Westküste Thailands vollgepfropft mit Autos und Motorrädern – die Menschen flohen strandnahe Gebiete. Egal wohin, Hauptsache weg vom Wasser. Dann brachen die Mobilfunknetze zusammen.

Doch nicht jeder hatte es mit der Angst zu tun bekommen in der Nacht des Seebebens vor einer Woche. Zehntausende von Touristen durchschliefen diese Stunden, obwohl ihre Hotelzimmerterrassen nur wenige Meter vom Strand entfernt waren. Entweder sie hatten nichts mitbekommen, oder sie hatten sich gedacht, es würde sowieso nichts passieren. Am nächsten Morgen dann, als Entwarnung für Thailand gegeben worden war, hörte man eifrige Diskussionen über weichgekochte Frühstückseier hinweg. Kleine Wettkämpfe wurden ausgetragen, darüber, wer am frühsten vom Beben gehört hatte. Die Kellner wurden noch ein wenig ausgefragt nach Ängsten und Befürchtungen, aber dann war wieder Urlaubsroutine: mit Handtüchern die Liege am Pool reservieren, die Junioren im Kinderklub abliefern und überlegen, wo man denn dinieren solle.

Wenig Aufmerksamkeit

Nicht nur die Touristen, auch die Thais widmeten dem Seebeben und den möglicherweise drohenden Nachbeben keine große Aufmerksamkeit. Die Nation, die seit Dezember um mehr als 5.000 Todesopfer und 2.000 Vermisste trauert, kümmerte sich nur kurz um das neue Beben. Die Medien waren nur einen Tag lang bereit, Platz in den Schlagzeilen zu machen für etwas, das für Thailänder ein Nicht-Ereignis darstellt. Und auch dann klopfte die mehr oder minder freie Presse Thailands der Regierung auf die Schulter: Das hektisch entwickelte Frühwarnsystem funktionierte – irgendwie. Alle waren auf eine Wiederholung des 26. Dezembers vorbereitet – so heiβt es zumindest.

Der thailändische Premierminister Thaksin Shinawatra lobte seine Beamte, die Armee, die Marine und die Gouverneure der südlichen Provinzen an der Westküste. Fernsehkanäle versorgten das Volk zwei Tage lang mit Aufnahmen von flüchtenden Touristen und Einheimischen - in Thailand, versteht sich. Doch weil das Land gerade unter einer Ölkrise leidet – vor zwei Wochen wurde der Preis für Diesel um sechs Cent pro Liter angehoben – und weil die Krise im Süden des Landes noch immer schwelt, obwohl der Premier seine harte anti-muslimische Linie aufzugeben bereit ist, verschwand das Beben und das Leiden in Indonesien aus den Medien.

Natürlich leidet Thailand auch noch 100 Tage nach den Riesenwellen an den Folgen. Die Touristen kommen zwar wieder, aber die groβen Märkte Chinas und Koreas bleiben noch immer aus. Europäer sind nur mit Billigstreisen zu ködern. Zudem haben die Tsunamis die Nationalpsyche beschädigt: Viele im Land deuten die Wellen als ein Zeichen von verärgerten Naturgeistern, als Warnung vor weiterem Missbrauch der Erde, des Waldes und des Meeres. Tausende trauern weiterhin um Familienangehörige, die in den Dezember-Wellen umgekommen sind. Viele Menschen im Land spenden Geld und leisten auf freiwilliger Basis Hilfe.

Thailandischer Blick nach Innen

Doch die Naturkatastrophe in Indonesien lieβ die Thailänder kalt: in vielen Köpfen und Herzen regte sich nichts, nachdem man vom Beben gehört hatte. Viele dachten – und sagten es auch laut: es waren ja "nur" 1.000 Opfer, man kann das nicht mit der Tragödie vom Dezember vergleichen (was man tatsächlich nicht kann), und uns ist schlieβlich nichts passiert. Diese Einstellung ist typisch für viele Thailänder, gerade seit dem 26. Dezember. Die Augen stets auf sich selbst gerichtet, schaut Thailand nur ungern über den Tellerrand. Mitgefühl, eine treibende, moralische Kraft im Buddhismus, reicht nur für das eigene Volk.

Selbst wenn es dem Land viel besser geht als anderen in der Region, käme in Thailand niemand auf die Idee, finanzielle oder gar personelle Hilfe nach Indonesien zu senden. Ein Paradox tut sich auf, das die Thais selbst zwar erkennen, aber gegen das man nichts unternehmen braucht und worüber nicht geredet wird. Kein Sozialkritiker, keine Zeitung würde es je wagen, der thailändischen Öffentlichkeit ihren National-Egoismus unter die Nase zu reiben. Kindlich sagt sich ein ganzes Land: wenn ich etwas nicht sehe, ist es auch nicht da.