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Kalte Welt: Berlinale-Fundstücke

Silke Bartlick
18. Februar 2018

Schönes Kino geht anders. Viele Filme der Berlinale knöpfen sich die soziale Wirklichkeit vor, schauen zurück in die Geschichte und stellen Sinnfragen. Ein Blick auf das Programm jenseits des Wettbewerbs.

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Berlinale 2018 | Minatomachi | Inland Sea
Bild: 2018 Laboratory X, Inc.

Herr Murata wundert sich. Gestern war er doch noch 50. Oder höchstens 60. Und nun geht er plötzlich auf die 90 zu. Sein Rücken ist gebeugt, Herr Murata muss den Kopf etwas eigenwillig drehen, damit er andere richtig angucken kann. Aber seine Augen sind noch gut. Und die Hände erst! Geschickt flickt Herr Murata die Netze. Jeden Tag aufs Neue. Denn immer wieder verheddern sich die Fische so, dass er sie los schneiden muss. Zwei, drei Jahre will Herr Murata noch arbeiten, mit dem Boot raus fahren auf das zwischen den japanischen Hauptinseln Honshu und Shikoku gelegene Binnenmeer und fischen. Denn Frau Koso, die die Fischhandlung im Dorf betreibt, nimmt seine Ware gern. Frau Koso ist auch schon weit über 70. Überhaupt sind sie alle alt, manchmal uralt in diesem Fischerdorf. Frau Koso kennt ihre Geschichten, weiß auch genau, welche Häuser seit wann verwaist sind. Täglich ist sie mit dem Lieferwagen unterwegs, bringt den Fisch direkt zu ihren betagten Kunden nach Hause.

Ausgedient, ausgeliefert

Der Filmemacher Kazuhiro Soda hat den Alltag im Dorf geduldig beobachtet und in seinem Film "Minatomachi - Inland Sea" in stillen schwarz-weiß Bildern eingefangen. Und er hat den Menschen zugehört, die dem Mann mit der Kamera erzählt haben, was sonst nie einer hören möchte. Denn niemand, so scheint es, interessiert sich noch für diese rüstigen Alten. Sie haben ausgedient, fertig, Schluss. Nur, dass sie eben doch noch da sind. Ihre Kinder leben in den großen Städten. Glücklicher als die Alten können sie kaum sein - das jedenfalls legt ein anderer Film - "River's Edge" von Isao Yukisada - nahe. Er zeichnet ein schonungsloses Porträt der japanischen Leistungsgesellschaft, die nicht nur die Umwelt vergiftet, sondern den eigenen vom Wohlstand verwahrlosten Nachwuchs einem brutalen Überlebenskampf mit Mobbing, Prostitution und Gewalt ausliefert. 

Standbild aus dem Film "Die Tomorrow": Ein Mädchen sitzt neben einem Löwen und versteckt ihr Gesicht hinter einer Blume (Foto: N. Thamrongrattanarit/J. Joonkiat)
Das Leben - ein flüchtiges Glück. Szene aus dem Film "Die Tomorrow"Bild: N. Thamrongrattanarit/J. Joonkiat

Schönes Kino geht anders. Schönes Kino, das einfach nur unterhalten will, ist bei der Berlinale Mangelware. Dieses Kino ist kämpferisch, schonungslos, oft anstrengend und immer sehr direkt. Ganz still war es bei der Pressevorführung von "Die Tomorrow", einem kunstvoll aus Interviews, Nachrichten, Archivmaterial und Statistiken verdichteten Essay über den Tod. Rein statistisch gesehen sterben weltweit pro Sekunde zwei Menschen. Das sind 8442 in der Zeit, die der Film läuft. Der Tod gehört zum Leben, eigentlich. Aber zumeist wird er weit weg geschoben, ausgegrenzt, ignoriert. Dem thailändischen Filmemacher Nawapol Thamrongrattanarit ist es gelungen, über dieses schwere Thema einen leichten, kunstvollen und doch ernsthaften Film zu machen – mit berührenden Alltagsszenen aus dem letzten Tag seiner sechs Protagonisten. Ein Film, der nachdenklich stimmt, der daran erinnert, wie kostbar das Leben ist. Und wie flüchtig.

Kompromissloses Kino

Die Welt ist ungemütlich. Isolierte Realitäten, das drastisches Wohlstandsgefälle, ein global erstarkender Nationalismus, Flüchtlingsströme - die Nachrichten sind voll von solchen Geschichten. Das Kino aber gibt ihnen Gesichter. Gesichter, die sich ins Gedächtnis einbrennen, Gesichter, die aufwühlen. Mehr geht kaum. Also auf zur Berlinale, rein in die Vorstellungen von Forum und Panorama, den Sektionen, die sich dem kompromisslosen Kino besonders verpflichtet fühlen. 

Berlinale 2018 | Al Gami’ya | What Comes Around
Versammlung in Rod El Farag: Wer bekommt wieviel Geld?Bild: Reem Saleh

Ein weiterer Film führt nach Ägypten. Er zeigt: Wer am Abgrund lebt, fällt entweder tief oder er baut sich einen Schutzraum. Rod El Farag wirkt auf den Außenstehenden wenig anheimelnd. Dieser extrem arme Kairoer Stadtteil ist laut, dreckig, verfallen und voller Menschen. Die aber haben etwas Besonderes zustande gebracht: Sie haben sich nämlich zu einer großen Familie zusammengeschlossen, zu einem Verband der Schutzbedürftigen. Jeder zahlt regelmäßig einen kleinen Geldbetrag in einen Topf ein. Wer Bedarf hat, wird dann von der Gemeinschaft unterstützt. Ware für den kleinen Verkaufsstand wird so finanziert, Kleidung für die Kinder, die Pflege des zuckerkranken Alten, aber auch üppige Hochzeiten mit Musik, Bauchtanz und Essen für viele Gäste. Oder die Beschneidung eines Mädchens. Sechs Jahre lang hat Regisseurin Reem Saleh eine Kairoer Gemeinschaft begleitet, ist vor allem Frauen und Kindern sehr nah gekommen – ihrem Alltag, ihrem Zusammenhalt, ihrem Leid, ihrer Lebensfreude. Ihr Film "Al Gami'Ya – What comes around" ist ein dichtes Portrait von Menschen, die nahe am Abgrund leben.

Zeitreise in die Geschichte

Wenn wir wissen wollen, wohin wir gehen, sollten wir wissen, woher wir kommen. Das Kino der Berlinale knöpft sich gerne blinde Flecken der Geschichte vor und holt die Vergangenheit in die Gegenwart. Einer dieser Filme kommt aus Deutschland und geht auf eine wahre Begebenheit zurück: Am 25.Oktober 1956 wurden während des ungarischen Freiheitskampfes mehr als 100 Demonstranten erschossen. Einen Tag später gedachte eine Abiturientenklasse in Storkow (DDR) ihrer mit zwei Schweigeminuten. Jahrzehnte später schrieb einer von ihnen, Dietrich Gartstka, darüber ein Buch. Lars Kraume hat es nun verfilmt - mit etablierten Schauspielern und zahlreichen überzeugenden Nachwuchsschauspielern. Der Titel: "Das schweigende Klassenzimmer".

Berlinale 2018 | Das schweigende Klassenzimmer | The Silent Revolution
"Das schweigende Klassenzimmer": Antreten zum Fahnenappell - antreten zur BestrafungBild: Studiocanal GmbH / Julia Terjung

Es ist eine Zeitreise in die junge DDR, die zweierlei offenbart: die rigiden Methoden der sozialistischen Bildungspolitik und die Unfähigkeit von Vätern und Müttern, offen und ehrlich mit ihren Kindern über die eigene Vergangenheit zu sprechen. Aus einem bescheidenen Schülerprotest wird ein weitreichender Skandal, die Staatsräson fordert ihre Opfer. Weil sich keiner als Rädelsführer zu erkennen gibt, werden alle bestraft: Eine ganze Klasse wird vom Abitur ausgeschlossen. Wenige Tage später sind die meisten weg, im Westen. Viele werden ihre Familien erst nach 1989 wiedergesehen haben.