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Kampf den Soziologen?

Stephan Hille21. August 2003

Die russische Regierung privatisiert ein angesehenes Meinungsforschungsinstitut. Prompt fragen sich Politikexperten was wohl dahinter steckt: Einflussnahme oder lediglich ein Schritt in Richtung Marktwirtschaft?

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Von der russischen Öffentlichkeit kaum beachtet, hat der Kreml beschlossen, Russlands führendes Meinungsforschungsinstitut "WZIOM" zuprivatisieren und das Führungspersonal auszutauschen. Nun rätseln die Beobachter, ob sich der Kreml lediglich von einem staatlichen Unternehmen trennen will oder, ob dahinter ein weiterer Schritt im Streben zur vollständigen Informationshoheit der Regierenden steckt. Die Umstände scheinen eben diesen zweiten Verdacht zu bestätigen.

Die erfolgreiche Geschichte des bekanntesten russischen Meinungsforschungsinstitutes begann in den Achtziger Jahren, als Gorbatschows Perestroika die gesellschaftlichen Daumenschrauben lockerte und die Sowjetbürger erstmals laut aussprechen konnten, was sie dachten oder nur rund um den Küchentisch zu besprechen wagten. Der schon damals führende, aber auch politisch unbequeme Soziologe Jurij Lewada hatte noch zu Sowjetzeiten das "WZIOM" gegründet.

Selbsttragende staatliche Behörde

Bis auf den heutigen Tag wird es als staatliche Behörde geführt, ohne dass es je eine Kopeke aus dem Staatshaushalt erhalten hat. Sämtliche Kosten hätten die Wissenschaftler aus der eigenen Tasche bezahlt, heißt es. All die Jahre veröffentlichten Lewadas Soziologen Umfragen zu allen Themen, von der großen Politik bis zu den alltäglichen Bedürfnissen der Russen. Das "WZIOM" erarbeitete sich nicht nur einen exzellenten Ruf, sondern lieferte ein repräsentatives Zeugnis darüber, was die Russen bewegte, ohne, dass sich der Kreml je eingemischt hätte.

Wenn nun der Staat beschließt, das ihm gehörende Institut zu privatisieren, handelt er formaljuristisch korrekt. Nur die Absicht, dass Lewada und der gesamte Aufsichtsrat des Instituts mit Vertretern der Präsidialadministration und führenden Ministerien ausgetauscht werden sollen, weckt den Verdacht, dass der Kreml kurz vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, künftig lieber selbst die Fragen ans Volk diktieren will.

Medien sprechen von Säuberung

Zwar hat das "WZIOM" Präsident Putin stets eine anhaltende Zustimmungsrate von rund 70 Prozent attestiert, doch die Tatsache, dass in den jüngsten Umfragen die Kreml nahe Partei " Geeintes Russland" nur auf mäßige Umfragewerte kam und sich eine knappe Mehrheit der Befragten für Verhandlungen mit den Rebellen in Tschetschenien aussprach, könnte den Kreml "irritiert" haben.

Viele Kreml-Beobachter stimmen jedenfalls mit der Analyse des Boulevardblattes "Moskowskij Komsomolez" überein. Dort hieß es kürzlich: "Das Fernsehen wurde bereits erfolgreich ‘gesäubert’: Es gibt keinen einzigen vom Staat unabhängigen Fernsehsender mehr. Jetzt sind die Soziologen an der Reihe."