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Neue Studie zur Rolle von Kultur in Konflikten

16. September 2009

Noch nie gab es so viele kulturelle Konflikte wie heute: Der Karikaturenstreit und Äußerungen des Papstes sind nur die bekanntesten. Doch wie entstehen kulturelle Konflikte? Eine Studie kam zu überraschenden Ergebnissen.

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Demonstrationen gegen die Mohammed-Karrikaturen in LondonBild: AP

DW-WORLD.DE: Herr Croissant, Sie sind Konfliktforscher und haben die Studie maßgeblich geleitet. Welchen Anlass gab es, eine solche Studie durchzuführen?

Zum einen war da ein gesteigertes Interesse der Öffentlichkeit, der Politik und der Wissenschaft an der Frage, ob Kultur und Konflikt zusammenhängen. Zum anderen gab es einen damit kontrastierenden Mangel an wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen zu diesem Zusammenhang.

Wie kann man sich den Datensatz vorstellen, der für die Studie "Kulturelle Konflikte seit 1945" benutzt wurde?

Prof. Dr. Aurel Croissant. Foto: DW / Ricarda Otte
Aurel Croissant: "Wir könnten ein Frühwarnsystem für kulturelle Konflikte aufbauen"Bild: DW

Ausgewertet wurde der CONIS-Datensatz, der in Heidelberg erstellt wurde. Dabei handelt es sich um den umfangreichsten Datensatz zu innerstaatlichen und zwischenstaatlichen, gewaltfreien und gewaltsamen Konflikten seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Datensatz besteht aus Daten zum Konflikt selbst, etwa Land, Akteure, Zeitpunkt des Beginns, weiteren Daten zu den Maßnahmen, also den Formen der Konfliktaustragung und insbesondere aus Angaben zur Intensität: von gewaltfrei bis hin zum Krieg.

Nach welchen kulturellen Parametern haben Sie diese Daten ausgewertet?

Innerhalb der Datenbank unterscheiden wir drei kulturelle Domänen: Historizität, Sprache und Religion. Hinzu kommen eine ganze Reihe von nicht-kulturellen Merkmalen zur Unterscheidung oder Ordnung der Konflikte. Es ist keine reine Kulturkonflikt-Datenbank, sondern eine universelle.

Karikaturenstreit - Proteste in Indonesien
Der Streit um die Mohammed-Karikaturen als Fallbeispiel für kulturelle KonflikteBild: AP

Welche konkreten Ergebnisse der Studie haben Sie überrascht?

Am meisten überrascht hat mich, dass Sprache als Faktor, der das Auftreten von Konflikten beeinflusst, wichtiger zu sein scheint als Religion. Außerdem ist die hohe Bedeutung von demographischen Faktoren interessant, insbesondere im Zusammenwirken mit kulturellen Faktoren.

Was bedeuten die Ergebnisse der Studie in Bezug auf Huntingtons These vom "Kampf der Kulturen"?

Huntingtons These diagnostiziert, dass Zivilisation oder Kultur auf der internationalen Ebene Ideologie als Konfliktgegenstand ablöst oder abgelöst hat. Wir zeigen, dass die übergroße Mehrzahl der kulturellen Konflikte, nämlich 86 Prozent, nicht zwischen Staaten, sondern innerhalb eines Staates stattfindet. Der "Clash of Civilizations" ist auf der Ebene der internationalen Politik zwischen Staaten glücklicherweise nicht eingetreten. Huntington argumentiert weiter, dass es kulturelle Unterschiede sind, die zu Konflikten führen, und er weist ihnen eine besondere Bedeutung zu. Wir zeigen: Kulturelle Unterschiede im Zusammenwirken mit anderen Faktoren, die nichts mit Kultur per se zu tun haben, erklären erst das Auftreten von kulturellen und nicht-kulturellen Konflikten.

Welche nicht-kulturellen Faktoren sind denn relevant?

Viele davon sind bekannt: die politische Verfasstheit eines Staates, das Wohlstandsniveau. Aber auch die religiöse und sprachliche Vielfalt zählen, außerdem demografische Faktoren, insbesondere der so genannte "youth bulge", also der Überschuss junger Männer im Alter von 15 bis 24 Jahren in einer Gesellschaft.

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In Europa, wie hier im Baskenland, drehen sich kulturelle Konflikte vor allem um SpracheBild: AP

Welche regionalen Unterschiede haben Sie festgestellt?

In Nord- und Südamerika konnten wir kaum kulturelle Konflikte im Zeitraum 1945-2007 erkennen. In Afrika konnten wir feststellen, dass sich, entgegen Huntingtons These von einer afrikanischen Zivilisation, kein kohärentes Muster erkennen lässt. In Europa sind Sprachenkonflikte die wichtigste Form kultureller Konflikte. In Asien spielt die geschichtliche Herkunft, die Historie des Zusammenlebens von Gruppen eine besondere Bedeutung und im Vorderen und Mittleren Orient Religion.

Was macht den Karikaturenstreit zu solch einem interessanten Fallbeispiel?

Zum einen handelt es sich um einen Konflikt, der wie kaum ein anderer in jüngerer Zeit verdeutlicht, was Kultur als Thema eines Konfliktes ist. Dieser Konflikt entzündete sich an einem kulturellen Thema, hatte ein kulturelles Thema im Kern stehen, zum anderen kann man an diesem Konflikt aber auch zeigen, dass es handfeste materielle, egoistische Interessen der Akteure gibt. Er steht aber auch für eine neue Form von Konflikt, die man als transnationalen Konflikt bezeichnen muss, also nicht mehr als inner- oder zwischenstaatlich. Der Konflikt löst sich gewissermaßen von einzelnen nationalen Ebenen und wandert auf die supranationale Ebene.

Was folgern Sie aus den Ergebnissen der Studie in Bezug auf den interkulturellen Dialog?

Der interkulturelle Dialog muss kulturelle Themen thematisieren, wenn er kulturelle Konflikte mindern oder ihnen entgegenwirken will. Eine Tabuisierung von Identitätsherausforderungen, von Identitätsunterschieden und mitunter Unvereinbarkeiten hilft nicht bei der Prävention oder Minderung kultureller Konflikte. Die konkreten Fallanalysen zeigen, welch besondere Bedeutung Eliten haben, nicht notwendigerweise politische Eliten, sondern Meinungseliten, gesellschaftliche Eliten, kulturelle Eliten. Unsere Studie kann auch dazu beitragen, eine Art Frühwarnsystem aufzubauen, da wir in der Kombination der Faktoren gesellschaftliche Typen benennen können, die vielleicht besonders im Risiko leben von kulturellen Konflikten erfasst zu werden.

Wie valide sind die Daten, mit denen Sie arbeiten?

Wir wissen heute mehr über Konflikte auf dem Balkan, Zentralasien, Afrika oder im Amazonasbecken, als das 1960 der Fall gewesen ist. Wir haben einfacheren Zugang zu Medien. Die politischen Beschränkungen sind häufig nicht mehr derart, wie sie früher existierten. Das könnte eine gegenüber der Vergangenheit verbesserte Informationslage zur Folge haben, die dazu führt, dass wir heute Konflikte anders einschätzen, als wir das früher getan haben, weil wir mehr über sie wissen.

Aurel Croissant ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Heidelberg und einer der Herausgeber der von der Bertelmann Stiftung in Auftrag gegebenen Studie "Kulturelle Konflikte seit 1945. Die kulturellen Dimensionen des globalen Konfliktgeschehens".

Das Interview führte Ricarda Otte.


Redaktion: Elena Singer