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Kampf gegen die Zwangsehe

Sigrid Dethloff25. November 2003

Auch in Deutschland werden Frauen mit Gewalt zur Ehe gezwungen, Türkinnen, Albanerinnen, Inderinnen. Die Berliner Anwältin Seyran Ates will ihnen helfen – doch die meisten Betroffenen wehren sich nie oder zu spät.

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Mit Gewalt zur Heirat genötigt - das kommt auch in Deutschland vorBild: DPA

Berlin-Kreuzberg. Ein Stadtteil, der wegen des hohen türkischen Bevölkerungsanteils im Volksmund auch "Little Istanbul"genannt wird. Viele Einheimische und Touristen strömen hierher wegen des Multi-Kulti-Flairs. Die Gefühle der türkisch-stämmigen Berliner Anwältin Seyran Ates aber sind andere, wenn sie durch die Straßen geht. Sie kämpft seit Jahren gegen die Zwangsheirat. Und sie weiß: So etwas kommt auch in Berlin vor. 230 verzweifelte Mädchen haben sich dort 2002 an die Beratungsstellen gewandt. Die Frauenrechtsorganisation "Terre des Femmes" spricht von 30.000 (geschätzten) Fällen, weltweit seien es Millionen.

Krank vor Angst und Unterdrückung

"Ich bin in Istanbul geboren, es ist eine Weltstadt", sagt Seyran Ates. Doch Kreuzberg sei das Gegenteil davon. "Dort haben sich türkische Familien konserviert in ihrer Immigration, die sie vor vierzig Jahren begonnen haben." Der Schein trüge manchmal. Auch, wenn auf der Straße "sehr modern aussehende, auch sehr sexy wirkende Frauen" zu sehen seien – viele von ihnen würden in extrem traditionellen Umständen leben. Quasi rechtlos.

Mindestens jede dritte türkische oder kurdische Frau in Berlin-Kreuzberg, so schätzt die Anwältin Seyran Ates, ist zwangsverheiratet worden. Das heißt für die meisten, sexuell genötigt und schwer misshandelt zu werden. Viele Mädchen fügen sich in ihr Schicksal aus Hilflosigkeit oder aus Solidarität mit ihren Müttern und Schwestern. Sie haben Angst vor dem Verlust der Familie, vor den Aggressionen des Vaters und der männlichen Verwandten. Unterdrückung, sexuelle Übergriffe und Gewalt führen nicht selten zu schweren körperlichen und seelischen Erkrankungen. Oft sind die Frauen vollkommen am Ende, wenn sie den Weg in die Kanzlei von Seyran Ates gefunden haben.

Ein Jahr ist oft zu kurz

Sie wollen die Scheidung. Aber auch die Anwältin und ihre beiden Kolleginnen müssen oft lange und behutsam nachfragen, bis das Wort "Zwangsverheiratung" fällt. Die Scham ist groß. Seyran Ates will helfen, "nur können wir diese Zwangsheirat juristisch nicht mehr thematisieren, weil meist die Frist abgelaufen ist für die Annullierung einer solchen Zwangsehe." Die Frauen hätten ein Jahr lang das Recht, die ungewollte Heirat rückgängig zu machen – doch die meisten wüssten das nicht oder zögerten zu lange. "Ich wünsche mir für die Frauen, dass die Fristen verlängert werden", sagt Seyran Ates.

Die mit Gewalt verheirateten Mädchen und jungen Frauen stammen vor allem aus einem türkischen oder kurdischen Umfeld. Betroffen sind aber auch Albanerinnen, Roma, Pakistanerinnen, Inderinnen oder Marokkanerinnen. Zwangsheiraten finden nach Meinung von Experten zu 90 Prozent in Kulturen mit fundamentalistisch-islamischem Hintergrund statt. Dafür gibt es im Koran allerdings keine Grundlage. Ausdrücklich wird dort die Freiwilligkeit für beide Partner betont.

Die Macht der Imams

Doch für viele ihrer Landsleute gilt - so Seyran Ates - das Wort des Hodschas bzw. Imams. Er segne das Recht von Familien ab, ihre Kinder nach ihren Wünschen zu verheiraten. Und er beanspruche für sich, Ehen nach islamischen Recht schließen zu können. Im Islam gebe es keine übergeordnete Kirchen-Stelle, die die Hodschas und Imams kontrolliere. Doch der deutsche Staat schaue zu oft weg, klagt Seyran Ates. Dabei sei es höchste Zeit, den selbst ernannten Predigern ihre Macht zu nehmen: "Sie sind sehr fortschrittsfeindlich und leben in einer sehr konservierten islamischen Welt." Menschenrechte für Frauen gebe es darin nicht: "Weil sie der Ansicht sind, Frauen sind weniger wert als Männer - und Männer bestimmen das Leben."