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Ohne Hinweise bleiben Kinderschänder oft unentdeckt

16. Februar 2011

Ein besonders erschütternder Fall von Kindesmissbrauch beschäftigt Deutschland. Ein 48-jähriger Familienvater soll mit seiner Tochter sieben Kinder gezeugt haben. Gegen Kinderschänder wird jetzt massiv vorgegangen.

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Plakatkampagne gegen Kindesmissbrauch (Foto: dapd)
Das Schweigen brechen - Plakatkampagne gegen KindesmissbrauchBild: dapd

Das erste Mal soll es mit 13 Jahren geschehen sein, dass der Vater seine Stieftochter vergewaltigte. Seine eigene leibliche Tochter soll er ebenfalls sexuell belästigt haben, seit sie neun Jahre alt war. In einem kleinen Dorf im Westerwald in Rheinland-Pfalz müssen sich Dramen abgespielt haben, von denen niemand außerhalb der Familie etwas ahnte. Seit 1987 bis zum Sommer 2010 geht es um hundertfache sexuelle Übergriffe. Bis schließlich die Tochter Anzeige erstattete.

Zuvor, als es Fragen zur Herkunft der Kinder in der Familie gab, soll die darauf angesprochene Stieftochter auf den Kontakt mit anderen Männern verwiesen haben. Das zuständige Jugendamt war mit diesem Hinweis am Ende seiner gesetzlichen Möglichkeiten angelangt. Denn Jugendämter in Deutschland haben keine rechtlichen Durchgriffsmöglichkeiten, beispielsweise einen DNA-Test anzufordern oder überraschende Hausdurchsuchungen zu veranlassen.

Wächterfunktion ohne Alarmsystem

Mädchen und Mann - Symbolbild Kindesmissbrauch (Foto: dpa)
Kindesmissbrauch - oft sind Verwandte die TäterBild: picture-alliance/dpa

In Deutschland sollen Kinder in erster Linie von den Jugendämtern in den Städten und Gemeinden geschützt werden. Nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz überträgt die deutsche Sozialgesetzgebung den Jugendämtern ein sogenanntes Wächteramt. Die in den jeweiligen Jugendämtern arbeitenden Sozialarbeiter achten zwar selbstständig auf Verdachtsfälle, sind aber wesentlich auf Hinweise zu Gewalt- oder Sexualstraftaten angewiesen. Diese Hinweise kommen von Nachbarn, von Ärzten, Hebammen, Suchtberatungsstellen, Arbeitsämtern, Gesundheitsdiensten oder der Erziehungsberatung. Oft aber bleiben Hinweise aus oder sie gelten als nicht ausreichend.

"Die Hinweise müssen aber belastbar sein", erklärt der Leiter eines Jugendamtes, der nicht genannt werden will, weil er keinen seiner Kollegen mit seinen Auskünften angreifen möchte. Er weist aber auf das Hauptproblem hin: "Oft können wir nichts nachweisen. Blaue Flecken am Körper beweisen alleine keine Sexualstraftat." Oft werde zusätzlich von Angehörigen vertuscht oder die Opfer selbst hätten zu große Angst vor den Tätern. "Dann sind wieder einmal wir, die angeblich unfähigen Jugendämter schuld", berichtet der Jugendamtsleiter frustriert.

Im aktuellen Fall der vergewaltigten, heute 28-jährigen Stieftochter muss es wohl eine so hohe emotionale Hörigkeit gegeben haben, dass sie ihren Vergewaltiger verteidigte. Einen Täterschutz aus Angst stellt auch Vera Falck fest. Sie leitet den Verein gegen sexuelle Gewalt an Kindern, "Dunkelziffer e.V." in Hamburg, der bundesweit in Schulen und Kindergärten Aufklärung betreibt.

Fortbildung für Sozialarbeiter

Rund 50 private Vereine unterstützen inzwischen die Jugendämter bei ihrer Arbeit. Sie bieten Hilfe als Ansprechpartner für Betroffene, für Kinder sowie für Ehepartner. Sie qualifizieren Sozialarbeiter und sorgen für Aufklärung bei Kindern und Jugendlichen. Die bekannteste Vereinigung ist der Kinderschutzbund. Die Bundesvereinigung der Kinderschutz-Zentren setzt auf die von der Bundesregierung geplanten Verbesserungen. Bundesgeschäftsführer Arthur Kröhnert berichtet, dass alle in Deutschland bestehenden Gesetze überarbeitet werden, die helfen können, einen besseren "Schutz von Kindern vor Sexualdelikten" zu ermöglichen. Erzieher, die zuletzt wegen sexuellen Übergriffen auf Kinder in der Öffentlichkeit standen, müssen künftig verbindlich Polizeiliche Führungszeugnisse vorlegen. Was bisher nicht einheitlich geregelt war, soll bundesweit verbindlich gelten.

Zu den von der Bundesregierung geförderten Maßnahmen gehört auch die weiterführende Qualifizierung von Sozialarbeitern in den Jugendämtern. "Wenn sie Hinweise besser deuten und viel umfangreicher vernetzt arbeiten können, ist viel gewonnen", bestätigt Arthur Kröhnert von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Kinderschutz-Zentren. Im Übrigen sei es eine "Verzerrung der Medien", wenn man im In- und Ausland den Eindruck habe, die Anzahl der Kindesmissbräuche nehme in Deutschland zu. Arthur Kröhnert und Vera Falck verweisen wie viele ihrer Kollegen auf die Zahlen des Bundeskriminalamtes. Dort liegen die gemeldeten Fälle seit Jahren bei rund 16.000. Die Dunkelziffer wird allerdings zehn bis fünfzehn Mal höher geschätzt.

Nationale und internationale Maßnahmen

Runder Tisch der Bundesregierung gegen sexuellen Kindesmissbrauch (Foto: dpa)
Runder Tisch der Bundesregierung gegen sexuellen KindesmissbrauchBild: picture-alliance/dpa

Die Bundesregierung arbeitet daran, neben einem verbesserten Rechtsschutz die Beratungs- und Hilfsangebote auszubauen und die Zusammenarbeit der Behörden zu verstärken. Ein nationaler Aktionsplan soll "soziale Frühwarnsysteme" in den Städten und Gemeinden fördern. Belastende Lebenslagen sollen so früher erkannt werden.

Für den Schutz der Kinder vor sexuellem Missbrauch ist Deutschland schon seit rund 20 Jahren international eingebunden. 1992 trat die Bundesrepublik zum Beispiel der UN-Kinderrechtskonvention bei und nimmt seitdem an allen Kongressen gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen weltweit teil. Zu den Ergebnissen gehört auch, dass sich alle wichtigen deutschen Institutionen darum bemühen, internationalen Sextourismus zu verhindern oder mindestens einzudämmen. Von "Kindergartengedöns", wie man Kinderschutz noch vor 30 Jahren abfällig bezeichnete, ist heute glücklicherweise nichts mehr zu hören, erzählt Arthur Kröhnert. "Kinder sind unsere Zukunft, und mit ihnen müssen wir verantwortungsvoll umgehen."

Autor: Wolfgang Dick
Redaktion: Kay-Alexander Scholz