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Politik

Kehrtwende eines Dschihadisten

Philip Fine Montreal / ft
1. November 2016

Früher Gotteskrieger, heute Geheimdienstmitarbeiter: Die Biografie des Kanadiers Mubin Shaikh liest sich wie ein modernes Märchen. Und ist doch so passiert.

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Mubin Shaikh
Bild: privat

Die Geschichte von Mubin Shaikh ist eine Geschichte voller Widersprüche. Sie erzählt von einem radikalisierten Jugendlichen, der erst Dschihadist wurde, danach aber für den Geheimdienst arbeitete. Doch der Reihe nach.

Shaikh, heute 41, wächst auf wie jedes normale Kind in Kanada. So scheint es zumindest auf den ersten Blick. Er besucht eine multikulturell geprägte Schule in Toronto. Auf der anderen Seite erfährt er auch eine harsche Erziehung in einer Koranschule. Als junger Erwachsener geht er zum Militär und ist ein großer Freund ausgelassener Partys. Dann jedoch wird er zum "wiedergeborenen" Muslim. Aus religiöser Hingabe wird eine radikale Haltung.

Der Kontrast zwischen der Multi-Kulti-Schule auf der einen und der islamischen Erziehung auf der anderen Seite fällt ihm schon als Kind auf. Die Schule im Stadtteil North York mit ihren einfühlsamen Lehrern und die Koranschule mit der indischen Madrasa, wo Jungen mit einem Rohrstock auf die ausgestreckte Hand geschlagen oder Backpfeifen verteilt werden - ein Gegensatz. Dementsprechend ist Shaikh froh, als er die Koranschule mit zwölf Jahren verlassen kann. Danach beginnt er, sich für das Militär zu interessieren.

Sein Leben als rebellischer Teenager erreicht den Höhepunkt, als er - in Abwesenheit der Eltern - eine wilde Hausparty schmeißt. Doch plötzlich taucht ein Onkel von Shaikh auf - und ist zutiefst empört. "Er sah diese ganzen weißen Jugendlichen mit ihrem Bier in der Hand und mit ihren Joints. Er sagte, ich hätte das Haus beschmutzt und die Familie entehrt", berichtet Shaikh der DW. Außerdem erzählte der Onkel dem Rest der Familie von der Party.

"Ich fand die Religion"

Wie würde Shaikh die Sache wieder gut machen können? "Ich fand die Religion", sagt er. Er wusste von anderen Jungs, die Mist gebaut hatten, dass sie einen viermonatigen spirituellen Trip nach Pakistan unternommen hatten, um ihren Ruf wiederherzustellen. Also machte auch er sich auf die Reise. 

In Pakistan kommt es zu einem Schlüsselerlebnis: Eines Tages begegnet Shaikh in Roben gekleideten, bärtigen Männern. Er sieht ihre Waffen. Es war 1995, die Männer waren frühe Mitglieder der Taliban. Diese Kombination aus Religion und schwerer Bewaffnung imponiert ihm, denn schließlich hatte er ja selbst auch eine religiöse und eine militärische Ausbildung. "Ich war total fasziniert", sagt er.

Zurück in Toronto schwärmt er für die Errungenschaften der Taliban in Afghanistan, freundet sich mit Moslems an, die von der "Bestrafung der Ungläubigen" reden. Jetzt selbst mit Vollbart und Gewand, fühlt er sich ganz anders respektiert. "Die Leute haben mich misstrauisch und angsterfüllt angeguckt. Das hat mir gefallen", sagt er. Auch seine Freunde waren selbstgerecht und jagten Anderen Angst ein. Einmal, so erinnert er sich, schüchterte er zusammen mit zehn anderen einen jungen Mann ein, der sich über einen Rekruten lustig gemacht hatte. "Wir sagten ihm, dass wir seine Schule in die Luft jagen, wenn er den Jungen nochmal belästigt. Und dass wir auch sein Zuhause finden werden und in die Luft jagen". Drei der zehn reisten anschließend nach Pakistan und in den Jemen, man hörte nie wieder von ihnen.

Kanada Ottawa Anschlag Parlament Polizei Spezialeinheit 22.10.2014
Im Oktober 2014 kam es am Kriegerdenkmal in Ottawa zu einer Schießerei mit terroristischem HintergrundBild: Reuters/Chris Wattie

Wendepunkt 9/11

Und dann kam der 11. September 2001. Zunächst feierte Shaikh die Anschläge als einen Sieg. Doch schnell kam das Umdenken. Ein Freund fragte ihn, wie er es rechtfertigen könne, dass Menschen getötet wurden, die keine Kämpfer waren. "Ich war still. Und innerhalb von Sekunden wurde mir klar, dass das alles nicht richtig war."

Sein Glaube an den Dschihadismus hatte eh schon abgenommen. Er hatte sich verliebt und hatte geheiratet. "Um es direkt zu sagen - jetzt hatte ich lieber Sex", sagt er in Anspielung auf die sexuellen Repressionen in der Dschihadistenszene. Der 11. September führte auch zu einem theologischen Umdenken. Er wollte in den Nahen Osten reisen und bekam die Chance dazu. Er zog mit seiner Familie nach Syrien und nahm anderthalb Jahre Unterricht bei einem religiösen Lehrmeister. "Er ging den Koran mit mir Vers für Vers durch, auch die Stellen, die wir als Dschihadisten zitiert hatten. Er entzauberte die islamistischen Thesen komplett."

Nach zwei Jahren kehrte er nach Kanada zurück. Dort der Schock: In den Nachrichten sah er, dass ein alter Klassenkamerad aus der Koranschule wegen Terrorverdachts festgenommen worden war. "Wir hatten doch zusammen auf der Schulbank gesessen, gemeinsam mit Autos gespielt - und jetzt das." Er wendete sich an den kanadischen Geheimdienst CSIS um herauszufinden, was genau geschehen war. Der CSIS begann schnell, sich für Shaikhs Geschichte zu interessieren und heuerte ihn an.

Kronzeuge für den Geheimdienst

Informationsbeschaffung und  -verifizierung waren von da an sein Job. Keiner aus seinem früheren Freundeskreis wusste, dass er dem Dschihadismus abgeschworen hatte. Als er für den Geheimdienst nach Syrien reiste, dachten alte Verbündete, dass er in dschihadistischer Mission unterwegs sei.  Zwei Jahre war er im operativen Geschäft tätig. Sieben Monate davon als eingeschleuster V-Mann in einer Gruppe, die einen Anschlag an verschiedenen Orten Torontos und einen Sturm auf das kanadische Parlament geplant hatte. Drei Tonnen Sprengstoff waren am Ende das Beweismaterial, das die kanadischen Ermittler gegen die Gruppe in der Hand hatten.

Während des Prozesses geriet Shaikh in Schwierigkeiten. Viele in der muslimischen Community warfen ihm vor, selbst zu den Taten angestiftet zu haben. Außerdem sei er käuflich geworden. Es setzte ihm zu. Er wurde medikamentenabhängig. "Ich reiste nach Mekka und betete zu Gott. Ich dachte, ich hätte alles richtig gemacht - und jetzt das?", erinnert er sich.

Elf Mitglieder der Gruppe wurden verurteilt, zum Großteil aufgrund Shaikhs Aussagen. Der geheimdienstlichen Arbeit ist er treu geblieben, hat Terrorismusbekämpfung studiert, schreibt jetzt im englischen Liverpool an seiner Doktorarbeit. Es ist Teil seiner Identität geworden, dass er die Dinge tiefer betrachtet und zweimal über alles nachdenkt - denn das hat ihm wahrscheinlich das Leben gerettet.