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Spinnens Wortschau

23. Juni 2009

Zu den erfolgreichsten Karrieristen unter den momentanen Modewörtern gehört die Wendung 'Keine Ahnung'.

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Der Schriftsteller Burkhard Spinnen (Foto privat)
Der Schriftsteller Burkhard Spinnen.Bild: privat

Hätte ich für jedes Keine Ahnung, das heute irgendwo im deutschen Sprachraum gesagt wird, auch nur einen Cent, so wäre ich fürs Leben versorgt. Besonders unter jüngeren Leuten ist es beliebt, ich habe schon Fünfzehnjährige gehört, die brauchten für seine Aussprache kaum mehr als zwei Silben: "keinahn’g".

Nun kann man da ja einfach hinnehmen. Wenn einer sagt, er habe keine Ahnung, dann redet er damit immerhin nicht um den heißen Brei herum. Und er ist mir daher lieber als einer, der sagt, er sei "informationstechnisch noch nicht up to date" oder "nicht ausreichend gebrieft" oder was an dergleichen Ausreden gerade so üblich ist. Hat einer keine Ahnung, dann weiß wenigstens ich Bescheid und kann wen anderen fragen.

Die Neugier des Sprachkritikers

Doch als einer, der gerne hinter die Worte guckt, interessiert mich, woran es liegen könnte, dass ausgerechnet Keine Ahnung momentan das Rennen um die meistbenutzte "Weiß-ich-nicht"-Formel macht. Und so frage ich mich zuerst, was denn eigentlich eine Ahnung ist? Die Wörterbücher helfen mir: Es ist die innere Vorausschau auf Kommendes. Die meisten anderen europäischen Sprachen übersetzen Ahnung dann auch mit Worten, die rückübersetzt so etwas wie Vorgefühl bedeuten.

Bildgalerie Schneemänner: Schmelzender Schneemann in Köln
Dieser Schneemann ahnt, was ihm bevorsteht...Bild: picture alliance/dpa

Kurz gesagt: Bei Ahnung geht es nicht um Kenntnisse und Gewissheiten, sondern um sehr individuelle Vorstellungen von dem, was sein könnte oder was demnächst sein wird. Aha! Dann sagt also derjenige, der Keine Ahnung! sagt, dass er, abgesehen davon, dass er sich nicht auskennt, auch nicht einmal eine Vorstellung davon hat, wie die Sache sein könnte.

Ein Armutsbekenntnis

Seitdem ich mich so mit der Wendung beschäftigt habe, höre ich sie anders. Und mir gefällt nicht, was ich jetzt höre. Denn ich höre immer ein Armutsbekenntnis. Dass man sich nicht auskennt, kann vorkommen, ist vielleicht sogar der Normalfall. Aber warum muss man dem Fragenden gleich auf den Rücken binden, dass man sich auch keine Vorstellungen macht, beziehungsweise keine machen will? Keine Ahnung! Für mich klingt das jetzt wie eine leicht aggressive Verweigerung von Fantasie und Vorstellungskraft.

Ich bitte daher von hier aus die deutschsprachige Sprechergemeinschaft: Liebe Leute, wenn Ihr nicht Bescheid wisst und Euch nicht auskennt, dann sagt das auch so. Verwechselt nicht Kenntnisse mit Fantasie. Und verweigert nicht so schnell die Ahnung. Sonst ahnt mir Böses.

Burkhard Spinnen, geboren 1956, schreibt Romane, Kurzgeschichten, Glossen und Jugendbücher. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet. Spinnen ist Vorsitzender der Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises. Gerade ist sein Kinderbuch "Müller hoch Drei" erschienen (Schöffling).

Redaktion: Petra Lambeck