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Keine Aufkleber am Familienwagen

Max F.Ruppert 23. Januar 2003

Die "New York Times" hat ihren neuen Ethikkodex veröffentlicht. Er gilt für alle Journalisten der Zeitung und enthält nicht allein Richtlinien für die redaktionelle Arbeit. Max F.Ruppert hat sich der Ethikkur unterzogen.

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Mitglied bei den Demokraten oder Republikanern? Unterstützung von Wahlkampagnen? Aufkleber von Parteien oder Bürgerinitiativen am Familienauto? Teilnahme an einer Demo oder einem Friedensmarsch? Für Mitarbeiter der "New York Times" sind solche Engagements so gut wie ausgeschlossen, denn sie sind mit dem neuen Ethikkode der Zeitung nicht vereinbar.

Ethikregeln gab es bei der "Times" zwar schon früher, aber die neuen gehen erheblich weiter. Auch Familienangehörige sind jetzt im Visier der Ethikwächter: Parteizugehörigkeiten, Initiativen, wirtschaftliche Verflechtungen und Aktienpakete von Verwandten und Eheleuten müssen dem Vorgesetzten im New Yorker "Times"-Hauptquartier offengelegt werden. Journalisten sollen über Themen, zu denen sie oder ihre Familie irgendwelche Beziehungen haben, nicht berichten.

Oberstes Prinzip des Ethikkodex: die Unabhängigkeit der "Times"-Journalisten und die Vermeidung von Interessenkonflikten bei der Berichterstattung. Dies gilt insbesondere für finanzielle Vorteile, die dem Journalisten aufgrund seiner Arbeit und seines Hintergrundwissens entstehen können. Im alten Ethikkode war es nur den Wirtschaftsreportern verboten, Aktien von Firmen zu halten, über die berichtet werden könnte. Jetzt gilt dieses Prinzip für alle: Ein Pentagon-Reporter aus dem Politikressort darf nach den neuen Regeln zum Beispiel keine Aktien von Rüstungsunternehmen haben. Und die Wirtschaftsleute sollten am besten gar keine Aktien im Depot haben, außer denen der "New York Times" Corporation.

Die Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit hat für die "Times" einen immensen Stellenwert. Am Anfang des Ethikkodes heißt es: "Mehr als ein Jahrhundert lang haben die Mitarbeiter der 'Times' ihre Integrität sorgsam bewacht. Unsere erste Pflicht ist es also, darauf zu achten, dass diese Integrität auch in unserer Zeit bei der 'Times' nicht beschädigt wird." Diese Integrität wird mit den neuen Regeln knallhart durchgesetzt: Selbst das Familienauto soll eine parolenfreie Zone bleiben, weil der Mitarbeiter auch in der Nachbarschaft immer als "New York Times"-Repräsentant angesehen wird.

Bob Steele, Journalismusexperte vom angesehenen Poynter-Institut in Florida, begrüßt die harten Regeln: "Wenn wir Journalisten andere kritisch durchleuchten - vom Wissenschaftler bis zum Abgeordneten - dann sollten wir uns selbst auch kritisch durchleuchten und uns an außerordentlich hohe Standards halten." Die Ethikstandards der "Times" sind sicherlich die höchsten im internationalen Journalismus. Für einige sind sie ein wenig zu ehrgeizig: "Die Aktienrestriktionen sind zu hart. Es ist, als ob man einen Reporter bitten würde, nicht wählen zu gehen", sagt Steeles Kollege Keith Woods, der am Poynter-Institut journalistische Ethik lehrt. Und Orville Schell, ein Journalismus-Professor aus Berkeley ist der Meinung, dass jeder wie ein Mönch leben müsse, wenn er diese Regeln Ernst nähme.

Die "Times" nimmt diese Regeln ernst. Zwei Jahre lang hat eine Kommission das 53-Seiten-Papier "Ethical Journalism" überarbeitet. Es ist deshalb so umfangreich, weil es für fast jede Entscheidungssituation eine ethisch vertretbare Lösung bereithält. So dürfen zum Beispiel auch keine Geschenke von Firmen angenommen werden, die über einen Kugelschreiber oder eine Tasse hinausgehen. Sollte ein Journalist doch mal eine teure Flasche Wein auf den Redaktionsschreibtisch gestellt bekommen, so findet er auf Seite 45 gleich einen Briefvordruck für die Rücksendung des Geschenks.

Während die "Times" die ethischen Regeln verschärft, macht es die amerikanische Politik genau umgekehrt: Die Republikaner haben gerade im Kongress die Ethikregeln gelockert. Nachdem sie 1995 ein totales Verbot für die Annahme von Geschenken durchgesetzt hatten, ist es den Abgeordneten jetzt erlaubt, Essenseinladungen bis zu 100 Dollar anzunehmen und als Gast in einer Firmenloge die Basketballspiele der Washington Wizzards anzusehen. Nach einem neuen Vorschlag der Republikaner soll bald auch kostenloses Catering in den Büros der Abgeordneten und die Teilnahme an Gratisreisen zu Golfplätzen erlaubt sein. Die New Yorker Journalisten müssen da wohl zu Hause bleiben.