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Keine leichte Entscheidung

Alexander Kudascheff26. Mai 2004

Entscheidungen brauchen Zeit. Das gilt besonders für die EU. Kaum wo anders dauern Entscheidungsprozesse so lange und enden dann so überraschend wie in Brüssel. Jüngstes Beispiel: die europäische Verfassung.

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Für die Engländer ist die Sache klar: Sie sind in der Politik Seefahrer. Sie orientieren sich pragmatisch am Wind und gehen Welle für Welle vor. Die Europäer dagegen - vor allem die romantischen Franzosen und die sentimentalen Deutschen - sie sind Philosophen, sie haben Visionen, denen sie alles andere unterordnen.

Worum geht es bei diesem Kampf der Kulturen? Um die europäische Verfassung, genauer um den Verfassungsvertrag. Im Dezember hatten sich die Staats- und Regierungschefs nicht auf einen Vertrag einigen können - denn Spanien - noch unter dem Konservativen Aznar - und Polen - noch unter dem Post-Kommunisten Miller - hatten das Prinzip der doppelten Mehrheit abgelehnt.

Doppelte Mehrheit

Doppelte Mehrheit, das heißt: Wenn in der EU entschieden wird, muss eine Mehrheit der Staaten - also 13 - mindestens 60 Prozent der Europäer repräsentieren. So sah es der Konventsentwurf vor, und damit sollte zweierlei erreicht werden: Entscheidungen wären demokratisch einfach und legitimiert.

Doch Madrid und Warschau wollten nicht. Die Verfassung verschwand in den europäischen Schubladen. Dann kamen - nach dem unberechenbaren Berlusconi - die Iren als neue Ratspräsidenten. Und unter dem forschen Bertie Ahern sah es so aus, als käme doch wieder Schwung in die verfahrene Situation. Die Spanier unter dem Sozialdemokraten und Wahlsieger Zapatero akzeptierten die doppelte Mehrheit - und die Polen - so schien es, auch.

Begrenzte Kompromissfähigkeit

Dann allerdings haute Tony Blair dazwischen, kündigte ein Referendum über die Verfassung an - und gleichzeitig neue rote Linien, die für London nicht verhandelbar seien. Mehrheitsentscheidungen bei der Außenpolitik, bei der Sicherheitspolitik, bei der Steuerpolitik, bei der Innenpolitik, bei der Sozialpolitik - undenkbar. Da müssten die anderen ihre Visionen aufgeben und sich den alten Seefahrertraditionen anpassen: also vernünftig vorgehen, Schritt für Schritt Erfahrungen sammeln und nicht das verfassungspolitische Kind mit dem Visionsbade ausschütten.

Und auch die Spanier waren in der Sache nicht mehr so kompromissbereit. Und die Polen? Sie erkannten das Prinzip an - und auch nicht. Und im übrigen: wenn doppelte Mehrheit, dann doch am besten nach den Verfahren von Nizza, die allerdings so umständlich sind, dass man gleich bei der Einstimmigkeit bleiben kann, das verstehe wenigstens jeder. Zudem gibt es in Polen derzeit keine handlungsfähige Regierung, kommt es zu Neuwahlen. Dann wird es noch unübersichtlicher. Im Klartext: Der Kompromiss wird an Warschau scheitern, wenn er denn überhaupt zustande kommen sollte.

Auf zur nächsten Runde

Denn plötzlich wird in Brüssel wieder über alles debattiert: über die Größe der Kommission, über den Gottesbezug, den selbst Malta - neben Italien oder Polen oder Irland - für unerläßlich hält, über längst vergessene Halb- und Hauptsätze des Entwurfs. Das findet wiederum Klaus Hänsch so frustrierend, dass er wenig Hoffnung hat, dass es in den nächsten Wochen zu einer Einigung kommt. Und so kursiert der alte Brüsseler Optimismus wieder: Wir sehen uns in dieser Frage wieder - in Holland. Und das ist immerhin auch eine Seefahrernation. Die Niederländer werden - so hofft man - die Engländer mit ins Boot nehmen. Aber sie sind nicht katholisch. Also doch keine Chancen auf Einigung - selbst in der zweiten Hälfte 2004?